Bei der Niederschrift dieses Kapitels hat mich des öfteren eine tiefe Melancholie gepackt. Mir wurde bewußt, daß von den in diesem Kapitel namentlich genannten Personen nur noch sehr wenige unter den Lebenden weilen dürften.
Und es kommen mir Verse in den Sinn, die ich vor mehr als einem halben
Jahrhundert in der Schule gelernt hatte:
Geboren bin ich am 15. Januar 1930 gegen 3.00 Uhr nachts in Berlin Mitte, und
zwar in der Universitäts-Frauenklinik in der Ziegelstraße, ganz nahe
hinter dem heutigen Friedrichstadt-Palast. Auf meinem Taufschein sieht man einen
Stempel der St.-Johannis-Evangelist-Kirche in der Auguststraße
(am Oranienburger Tor). Natürlich kann ich mich nicht daran erinnern, aber
diese Tatsachen werden durch Dokumente belegt.
Meine ersten Erinnerungen reichen bis in das Jahr 1934 zurück. Ich
erinnere mich an ein Krankenhaus. Ich war bei einem Besuch bei meiner
Großmutter (mütterlichseits) Mathilde beim Herumtoben
auf den Deckel eines Kohlenkastens gefallen und hatte mir den rechten
Oberschenkel gestoßen. Am nächsten Tag konnte ich nicht mehr
laufen. Es tat beim Auftreten irrsinnig weh. Ich wurde in das örtlich
zuständige Krankenhaus Friedrichshain gebracht und - wie ich
später erfuhr - von professoralen Kurpfuschern auf spinale
Kinderlähmung behandelt. Die Ärzte nahmen meine
Erklärung, daß ich mit dem rechten Bein auf den Kohlenkasten
geprallt war, überhaupt nicht zur Kenntnis. Ich erinnere mich weiter,
daß mein Vater einen scharfen Wortwechsel mit einigen Ärzten
hatte, mich einfach aus dem Bett heraushob und per Taxe in ein anderes
Krankenhaus brachte. Das war das Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zehlendorf.
Dort wurde erst einmal eine Röntgenaufnahme gemacht, ein unvollkommener
Knochenbruch des rechten Oberschenkels festgestellt, das Bein operiert
- wobei der eingebrochene Knochen mit den Splittern geflickt wurde - und
nach einem Vierteljahr konnte ich wieder laufen. Außer einer Narbe,
die immer mitwuchs, ist nichts zurückgeblieben.
Jahrzehnte später mußte ich erkennen, daß mein Vater bei dieser
Aktion eine Menge Zivilcourage aufgebracht hatte und sich nicht von den medizinischen
"Koryphäen" einschüchtern und oder beirren ließ. Und
heute ich bin froh, daß ich offensichtlich diese Zivilcourage geerbt habe.
Dann erinnere ich mich noch an ein anderes Ereignis. Es war eine wichtige
Person gestorben. Sein schwarz verhüllter Sarg wurde durch das Brandenburger
Tor getragen. Ich war dabei; mein Vater hatte mich auf seine Schultern
gesetzt und ich sah, was ich damals nicht verstand. Es war der Trauerzug
für den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Mit diesem
Begräbnis ging eine Ära zu Ende. Es begann die Ära der
Mitläufer und der Anpassung.
Diese Ära ist auch heute noch nicht zu Ende.
Die Ehe meiner Eltern war 1934 geschieden worden, während ich im
Krankenhaus war; den eigentlichen Grund habe ich niemals herausgefunden.
Vom Gericht wurde ich meinem Vater zugesprochen; es wurde jedoch verfügt,
daß mich meine Mutter alle vier Wochen sehen durfte. Ich wurde dann
zuerst alle vier Wochen von meinem Vater, der mit seiner Mutter - meiner
Großmutter Elisabeth - und mit seiner Schwester - meiner
Tante Charlotte - in Berlin-Wilmersdorf am Rüdesheimer Platz
wohnte, zu meiner Mutter, die seit 1935 wieder verheiratet war und mit
ihrem zweiten Ehemann Fritz Schmollmann - ihrer Jugendliebe - in
einem Eckhaus in der Kopernikusstraße 6 Ecke Warschauer Str. 25
im Berliner Bezirk Friedrichshain (damals "Horst Wessel") wohnte,
gebracht und abends wieder abgeholt.
An den Wochenenden nahm mich mein Vater, der bei der BVG (Berliner Verkehrs-Gesellschaft)
in der Lohnbuchhaltung tätig war (und später deren Leitung übertragen
bekam) und deshalb auf allen BVG-Linien freie Fahrt hatte, regelmäßig
zu ausgedehnten Ausflügen mit, die bis zur Stadtgrenze und darüber
hinaus (Machnower Schleuse, Glienicker Brücke, Babelsberg etc.) führten.
Schließlich kannte ich die gesamte Berliner Umgebung.
Als ich so etwa 5 Jahre alt war, begann ich, mich zu interessieren, was
die Buchstaben an den Straßenschildern und über den Schaufenstern
bedeuten. Nach einiger Übung konnte ich recht flott lesen und bald
auch schreiben. Daher langweilte mich ein Jahr später die Grundschule
(Offenbacher Straße in Berlin-Friedenau) sehr, zumal sich die Lehrer
immer nur mit ihren "Lieblingen" befaßten, die (zufällig)
in den vordersten Reihen saßen.
Eines Tages fand eine Elternversammlung statt, und mein verblüffter Vater
bekam von meinem Klassenlehrer - einem gewissen Herrn Wienecke- zu hören,
daß ich faul sei, nicht mitarbeite
und sitzenbleiben werde. Mein Vater wurde
wütend über soviel pädagogische Unfähigkeit und erklärte
dem ungläubigen Lehrer, daß ich bereits fließend lesen und
schreiben könne. In der nächsten Unterrichtsstunde kam dann die Probe.
Der Klassenlehrer hatte ein Exemplar des "Völkischen Beobachters"
(!) mitgebracht und forderte mich auf, einen Artikel vorzulesen. Doch die erwartete
Blamage blieb aus. Für mich war diese Aufgabe keine Schwierigkeit. Ich
ratterte fließend den dort veröffentlichten Unsinn herunter und fragte,
ob ich noch etwas vorlesen solle. Dabei sah ich, daß der Lehrer
einen hochroten Kopf bekommen hatte. Seitdem war von "Faulheit" keine
Rede mehr.
Zwei Jahre später hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis. Von den
Erwachsenen wurde mir immer erzählt, was für eine gute Polizei wir hätten.
Eines Morgens sah ich, daß die Schaufenster eines Feinkost-Geschäftes
"Süßkind" in der Laubacher Straße eingeschlagen
waren. Und am nächsten Tag sah ich dasselbe bei einer Konditorei "Goldacker"
an der Frankfurter Allee. Ich fragte meinen Vater und meine Mutter, wie so etwas
passieren konnte, wo wir doch eine so gute Polizei haben. Eine Antwort auf meine
Frage hatte ich nicht bekommen; sowohl mein Vater als auch meine Mutter fingen
ein anderes Thema an. Mir dämmerte, daß mit dieser Polizei vielleicht
doch nicht alles so in Ordnung sei, wenn sie diese Taten nicht hatte verhindern
können (oder wollen). Oder hatte die Polizei vielleicht doch nicht so viel
zu sagen?
Als ich neun Jahre alt war, wurde ich unternehmungslustig. Da ich instinktiv
fast immer wußte, wo Norden und Süden waren und ich mich daher niemals
verlaufen oder verfahren konnte, machte ich mich immer häufiger nach der
Schule und nach dem Mittagessen auf, die Stadt zu erkunden. Damals gab es in
Berlin eine Reihe von Straßenbahnlinien, die keinen Anfang und kein Ende
hatten, sondern immer im Kreis fuhren. Da gab es die Linie 1 (Stadtring),
die Linie 3 (Großer Ring), die Linie 4 (Ost-West-Ring),
die Linie 5 (Außenring) die Linie 6 ( Südring),
die Linie 7 (Westring), die Linie 8 (Nordring) und die Linie
109 (Ostring). Ich kaufte mir von meinem Taschengeld also einen Schüler-Fahrschein
für 15 Pfennige, mit dem man umsteigen konnte, fuhr mit der U-Bahn soweit,
daß ich eine der Ringlinien erreichte und stieg dann in die Straßenbahn
um. Dann fuhr ich einmal im Kreis herum, was bei manchen Linien beinahe zwei
Stunden dauerte, bis ich wieder an der Stelle war, an der ich eingestiegen war.
Dann ging es mit der U-Bahn zurück zum Rüdesheimer Platz. Auf diese
Art und Weise lernte ich die ganze Stadt kennen. Besonders interessierte mich
die Innenstadt zwischen dem Brandenburger Tor und dem Königstor. Aber auch
außerhalb dieses Bereiches zwischen den Toren gab es interessante Dinge
zu erforschen: im Osten den Friedrichshain mit seinem Märchenbrunnen und
im Westen den Tiergarten, der im Norden von der Straße "In den Zelten"
begrenzt wurde. Dort befand sich ein Gartenlokal neben dem anderen. Mehrere
dieser Lokale besaßen geräumige Säle, in denen beinahe täglich
eine Art "Kurkonzert" stattfand. Und das war meine erste Begegnung
mit der Musik. Dort konnte man Paul Lincke, Otto Kermbach und
Andere dirigieren sehen. Und ich glaube, sogar einmal Franz Lehár
erlebt zu haben, als er u.a. seinen berühmtesten Walzer "Gold und
Silber" dirigierte.
Einige der Straßenbahn-Ringlinien fuhren auch die Warschauer Straße
entlang, und zwar die Linie 4 (Ost-West-Ring), die Linie 5 (Außenring),
die Linie 8 (Nordring) und die Linie 109 (Ostring). Und so kam es, daß
ich auch außerhalb des Vier-Wochen-Turnus des öfteren mit einem Schüler-Fahrschein
zu 15 Pfennigen zu meiner Mutter in die Kopernikusstraße zu einem kurzen
Besuch oder auch zu meiner Großmutter Mathilde, die in der Pintschstraße 22
(am Petersburger Platz) wohnte, fuhr.
Im Jahr 1939 heiratete auch mein Vater wieder. Wir wohnten dann in Berlin-Halensee,
und zwar in der Eisenzahnstraße 21 in einem Wohnblock, der der BVG (Berliner Verkehrsgesellschaft) gehörte.
Im Jahre 1941, als mein Vater an der Front war, ging die zweite Ehe meines Vaters
in die Brüche, weil meine Stiefmutter fremdging. Meine Stiefmutter Charlotte
geb. Habermann verhielt sich ziemlich garstig gegen mich, woraufhin ich dann
ausrückte und bei meiner Mutter Unterschlupf suchte. Das zuständige
Jugendamt übertrug dann das "Sorgerecht" für mich meiner
Mutter. Von da ab wohnte ich in der Kopernikusstraße 6 im Bezirk Friedrichshain.
Dieses Eckhaus an der Kreuzung Warschauer Straße 25 / Kopernikusstraße
6 im Bezirk Friedrichshain steht noch heute. Es hatte schon einmal bessere Zeiten
gesehen, wie der Blick in den Hausflur zeigt.
In der ersten beiden Stockwerken des Vorderhauses befinden sich pompöse Wohnungen mit großen und hohen Räumen. Im ersten Stock des Aufganges Warschauer Str. 25 lebte die Hausbesitzerin, eine Frau Käthe Belling. Sie sah genauso aus wie die Schauspielerin Adele Sandrock. Unten im Haus hing der übliche "Stille Portier", und oben stand dort als Eigentümer: "Hagelmoser Erben". Familie Hagelmoser emigrierte 1933. Es gab aber eine Erbin, und das war die bewußte Adele-Sandrock-Doppelgängerin. Im Erdgeschoß befand sich eine Eckkneipe (auch heute ist wieder eine Gaststätte in den Räumen).
Auf dem Hof des Eckhauses Warschauer Straße 25 / Kopernikusstraße 6 befindet sich (auch heute noch) als Abgrenzung zum Hof des Nachbargrundstücks Kopernikusstraße 5 eine Mauer. In der Mitte der Mauer ist ein typisches Friedhofsdenkmal mit einer Aushöhlung - in der Kirchenarchitektur spricht man von einer Concha - zu sehen.
Davor befand sich ein kleines gepflegtes Vorgärtchen mir Rasen und einer kleinen Buchsbaumhecke. Da ich immer sehr neugierig war, fragte ich eines Tages meine Mutter, was diese Aushöhlung zu bedeuten habe. Da erfuhr ich, daß das ein Denkmal ist, das Denkmal für die Hagelmoserschen Hunde. Ein Hunde-Denkmal! Und das Vorgärtchen vor dem Denkmal ist der Hundefriedhof. Ich war sehr beeindruckt. Allerdings weiß ich nicht mehr, welcher Rasse die Hunde angehörten - ich glaube, daß es Windhunde waren - und wieviele dort begraben liegen.
Das Denkmal kann man auch heute noch betrachten; es befindet sich allerdings in einem traurigen Zustand, genau wie das ganze Haus. Die Säulen sind mit blauer und roter Farbe beschmiert. In der Mitte des Hundefriedhofes sieht man jetzt eine Betonplatte, auf der die Mülltonnen abgestellt werden.
Ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger der heutigen Hausbewohner um die Bedeutung des inzwischen vom Zahn der Zeit arg mitgenommenen Denkmals und des Vorgärtchens weiß.
Im Haus Kopernikusstraße 6 lebte und arbeitete im 1. Stock der Kürschnermeister
Willi Schwutke. Dieser besaß zwei schwarzrote Dobermann-Pinscher.
Alle Hausbewohner fürchteten sich vor diesen "Bestien" und flüchteten
in ihre Wohnungen, wenn die Hunde Gassi geführt wurden. Ich war nicht so
zimperlich, sondern ging meinen Weg weiter, wenn mir die Hunde auf der Treppe
entgegenkamen. Die Hunde taten mir nie etwas.
Meine Mutter Gertrud berichtete mir auch damals, daß ihr Vater
Rudolf Siewert einen Bernhardiner besaß. Das muß zwischen
1911 und 1917 gewesen sein. Meine Mutter - Jahrgang 1905 - war sehr klein und
wurde auf dem Schulweg oft von den körperlich viel größeren
Mitschülerinnen geärgert. Meinem Großvater gefiel das nicht,
und so kaufte er für seine kleine Tochter den größten Hund,
den es gibt, nämlich einen Bernhardiner. Dieser Bernhardiner schlief auf
der Couch und beschützte die kleine Gertrud, die von da an nur noch in Begleitung
des Riesenhundes zur Schule ging. Anschließend trottete der Hund wieder
von allein nach Hause. Zum Schulschluß saß der große Hund
wieder vor dem Schultor in der Gubener Straße und holte dort die kleine
Trude ab. Und alle Mitschülerinnen hatten vor dem Riesentier (und also auch vor meiner
Mutter) Respekt.
Meine Mutter berichtete mir auch von ihrem Großvater väterlichseits.
Der Vater ihres Vaters Rudolf Siewert, Gottlieb S., besaß eine
typische Berliner Kneipe dicht am Schlesischen Bahnhof (dem heutigen Ostbahnhof),
und zwar Lange Straße 22. Über der Kneipe befand sich die
Wohnung, und von dieser Wohnung war damals ein Zimmer vermietet, und zwar an
einen gewissen Wilhelm Voigt.
Über die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick ist viel geschrieben
und sogar inszeniert worden, doch wo er gewohnt hatte, wissen die meisten nicht.
Meine Mutter erzählte mir, daß ihr Großvater Gottlieb eine
Dogge hatte. Als nach der Köpenickiade Wilhelm Voigt populär wurde
und auch zu Geld kam, ließ er ein Bild malen, auf dem er, mein Großvater
und die Dogge zu sehen waren. Leider ist das Bild nach dem Tode meines Urgroßvaters
von dessen dritter Frau verkauft worden. Vielleicht existiert es noch irgendwo.
Die Häuser in der Langen Straße sind im Krieg nahezu sämtlich
durch Bomben zerstört worden; als ich mir das Grundstück meines Urgroßvaters
kurz nach Kriegsende ansah, war das Vorderhaus ein großer Trümmerhaufen,
während von den hinteren Gebäuden mit den Pferdeställen immerhin
noch ein paar Außenmauern standen. Heute erinnert dort nichts mehr an
die Vergangenheit. Große Bürohaus-Komplexe befinden sich jetzt zwischen der S-Bahn und der Straße. Wäre das Haus nicht zerstört worden, befände
sich heute sicher ein Hauptmann-von-Köpenick-Museum dort und ich
als einziger Erbe könnte Eintritt kassieren.
Ich habe diese Geschichten, die ich nicht selbst erlebt hatte, deshalb hier
festgehalten, weil sie zeigen, daß die Zuneigung zu Hunden offensichtlich
vererbt worden ist, denn mein Urgroßvater, mein Großvater mütterlichseits
und meine Mutter besaßen Hunde.
Ich erinnere mich an das Jahr 1941. Zu meiner damals für mich noch vollkommen
unüberblickbaren Verwandtschaft, die ich mehrmals im Jahre auf Geburtstagsfeiern
zu sehen kam, gehörte auch ein gewisser Onkel Robert Heinrich. Er
hatte eine tiefe herrische Stimme, wußte immer alles besser und stritt
sich oft hinter der verschlossenen Tür mit seinem Vater, dem Onkel Rudolf
H., über politische Dinge. Die Namen Hitler, Liebknecht
und Thälmann hörte ich manchmal durch die Tür. Dieser
Onkel Rudolf - ein überzeugter Sozialdemokrat - sagte des öfteren:
"Hitler bedeutet Krieg", woraufhin von seinem Sohn Robert stets
die Entgegnung kam: "Der Führer will den Frieden!"
Onkel Rudolf war mit meiner Großmutter Mathilde Heinrich verheiratet,
meine Mutter sagte aber nicht "Vater" zu ihm, sondern eben "Onkel
Rudolf". Da mir diese Situation äußerst merkwürdig vorkam,
begann ich zu fragen und erfuhr, daß dieser Onkel Rudolf tatsächlich
ein echter Onkel meiner Mutter war. Dieser Onkel Rudolf H. war mit einer Schwester
meiner Großmutter namens Alwine Heinrich geb. Hübner verheiratet
gewesen. Diese Großtante Alwine war 1928 gestorben. Der richtige Vater
meiner Mutter, Rudolf Siewert, war an den Kriegsfolgen 1918 gestorben.
Danach ging meine Großmutter Mathilde eine zweite Ehe ein und hieß
dann Mathilde Müller. Doch ihr zweiter Ehemann starb sehr bald;
woran, weiß ich nicht. Meine Großmutter Mathilde war nun wieder
allein, und so heiratete der verwitwete Onkel Rudolf meine Großmutter
Mathilde, die eigentlich seine Schwägerin - die Schwester seiner ersten
Frau Alwine - war. Durch diese Eheschließung wurde der Onkel Robert, der
ja ein Cousin meiner Mutter war, gleichzeitig der Stiefbruder meiner Mutter.
Weshalb ich diese komplizierte Familiengeschichte hier zu erklären versuche?
Weil sich ein halbes Jahrhundert später ähnlich komplizierte Verwandtschaften
unter unseren Hunden ergaben. Doch davon wird später berichtet werden.
Doch nun zurück zu dem bewußten Onkel Robert H. Das Verhältnis
zu meiner Mutter war nicht besonders gut; meine Mutter hielt nicht viel von
ihm, wahrscheinlich deshalb, weil er ein überzeugter Hitler-Anhänger
war. Der Onkel Robert hatte aber eine sehr nette Frau, Tante Lieschen,
die aber 19 Jahre älter war als er. Später erfuhr ich, daß Robert
sie nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte. Eines Tages fuhren wir zu ihrem
Geburtstag in die Gneisenaustraße 64, Vorderhaus 1. Stock. Es war eine
Wohnung mit großen und hohen Räumen. Allerdings durfte man das zum
Hof führende Küchenfenster nicht aufmachen. Auf dem Hof befand sich
nämlich ein Kuhstall und der Duft war penetranter als in jedem Dorf.
In der pompösen Wohnung lebten also Onkel Robert, Tante Lieschen und deren
Sohn Joachim, der somit mein Großcousin war. Als wir die Wohnung
betraten, kam im Korridor etwas auf mich zugelaufen, beschnüffelte mich
und blieb dann den ganzen Nachmittag und Abend in meiner Nähe. Es war eine
schwarzweiße Spaniel-Hündin namens Sissi mit einem herzerweichend
traurigen Blick. Sie war wohl eher der Liebling von Tante Lieschen; vom Onkel
Robert und seinem herrischen Ton hielt Sissi offensichtlich nicht viel. Sissi
sah ich dann öfter auf Geburtstagsfeiern, und jedesmal kam sie zu mir,
wenn sie mich sah.
Als Hitler der Sowjetunion den Krieg erklärt hatte, sagte Onkel Rudolf,
Roberts Vater, vollkommen deprimiert: "Das ist das Ende!" Wie recht
er hatte, erfuhren wir sehr bald.
Meine Großmutter Mathilde stammte aus Pommern, und
zwar aus Klein-Küdde bei Neustettin. Dort auf dem Familiengrundstück
lebte ihre älteste Schwester Tine (eigentlich Albertine)
mit ihren Nachkommen. Es wurde irgendwann beschlossen, daß wir - meine
Großmutter, meine Mutter und ich - während meiner Schulferien im
Sommer nach Klein-Küdde fahren. Die Eisenbahnfahrt vom Schlesischen Bahnhof
über Küstrin und Landsberg/Warthe bis nach Schneidemühl kam mir
endlos lang vor. In Schneidemühl mußten wir umsteigen. Dann ging
es in merkwürdigen Eisenbahnwagen, die an beiden Enden offene Plattformen
hatten, weiter über Jastrow nach Neustettin. Nach einem Aufenthalt in Neustettin
ging die Fahrt in Richtung Stolp weiter. Der erste Bahnhof hinter Neustettin
war bereits Klein-Küdde, wo wir gleich vom Bahnhofsvorsteher begrüßt
wurden. Das war der Onkel Fritz. Dann wurden wir von einem anderen Onkel
- dem Onkel Paul - mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt. Als ich dann ein
paar Wochen in Klein-Küdde war, hatte ich begriffen, daß praktisch
alle Einwohner von Klein-Küdde und des am anderen Ufer der Küddow
gelegenen Groß-Küdde mit meiner Großmutter und folglich auch
mit mir verwandt waren. Wo man hinkam, wurde man als Verwandter freundlich begrüßt
und überall gab es Kuchen, Pudding, Rote Grütze und andere leckere
Dinge in Hülle und Fülle. Von Lebensmittel-Knappheit und -Rationierung
wie in Berlin war man damals auf dem Lande weit entfernt.
Auf dem Familiengrundstück herrschte also Tante Tine. Sie kam mir damals
uralt vor. Sie war Jahrgang 1865, mußte damals also 74 Jahre alt gewesen
sein. Sie war nett und freundlich, aber ich konnte sie erst kaum verstehen,
denn sie sprach pommersches Platt. Sie konnte aber auch hochdeutsch reden,
und wenn sie merkte, daß ich etwas nicht verstanden hatte, sagte sie es
noch einmal in hochdeutsch. Nach einer Woche hatte ich mich in diese merkwürdige
Sprache etwas hineingehört und verstand auch hin und wieder einen Satz.
Der bewußte Onkel Paul, der uns vom Bahnhof abgeholte hatte, war ihr Sohn.
Dieser Sohn betrieb ein kleines Fuhrgeschäft. Auf dem Hof stand ein Lastkraftwagen
mit einem Holzgas-Generator. Dieser Holzgas-Generator war eine aufrecht montierte
Tonne von etwa 300 Liter Fassungsvermögen mit einem Deckel oben und mehreren
Klappen und Öffnungen unten. Oben wurden Holzscheite hineingeworfen, der
Deckel wurde zugeschraubt und unten wurde ein Feuer angezündet und ein
Ventilator eingeschaltet. Nach einer Weile kam aus einem Seitenloch blaugrauer
Qualm; es duftete dann würzig nach Räucherkammer. Dann wurde mit einem
Feuerzeug probiert, ob der blaugraue Qualm brannte. Wenn die Flamme nicht ausging,
wurde ein Ventil umgestellt. Die Flamme erlosch und man konnte losfahren. Diese
Einrichtung war zwar umständlich, aber äußerst praktisch. Man
war von Benzin und Dieselkraftstoff unabhängig und Holz gab es in der Gegend
in Hülle und Fülle.
Dann gab es noch die Kinder vom Onkel Paul. Das waren meine Großcousine
Trude, deren Bruder Kurt (den ich erst etwas später kennenlernte)
und ihre kleine Schwester Friedel (eigentlich Elfriede). Trude
muß damals 22 Jahre alt gewesen sein, groß und schlank, mit blonden
langen Haaren und einem schmalen aristokratischen Gesicht. In der Verwandtschaft
wurde gemunkelt, daß ihre Mutter Marie mit einem Adligen fremdgegangen
sei. Friedel war 13 oder 14 Jahre alt, sie war ein völlig anderer Typ,
kleiner als Trude, robuster, mit dicken braunen Zöpfen. Und dann gab es
den braun-weißen Foxterrier Teddy, die Katze Lilly, ein
Schwein, eine Ziege und etwa ein Dutzend Hühner.
Mit Teddy war sofort Freundschaft geschlossen. Das Grundstück der Tante
Tine war vielleicht einen halben Kilometer lang und reichte bis an die Küddow.
Wenn ich unterwegs war, um die Umgebung zu erforschen, war Teddy immer dabei.
Oft wartete er schon auf dem Hof an der Küchentür auf mich, um mich
zu begleiten Es war ein warmer und trockener Sommer, wir waren an jedem Tag
draußen und bald kannte ich mich in Klein-Küdde aus.
In der Gegend dort gibt es sehr fischreiche Seen. Eines Tages kam Trude mit
einem Eimer voller armdicker Aale an. Nachdem die Aale ausgenommen waren, wurde
auf dem Hof ein leeres Faß, das oben und unten offen war, auf einen Unterbau
aus Ziegelsteinen gestellt. Die Aale wurden mit Haken an Eisenstangen gehängt,
und dann wurden diese Eisenstangen mit den Aalen über die obere Faßöffnung
gelegt. Dann wurde die Faßöffnung mit einem feuchten Tuch abgedeckt.
Ich beobachtete mit großer Verwunderung diese Vorbereitungen. Anschließend
machte Trude unten zwischen den Ziegelsteinen ein Feuer mit Buchenspänen
und -scheiten, wobei sie aber darauf achtete, daß die Flammen nicht zu
groß wurden. Es wurde in Abständen immer wieder etwas Wasser in das
Feuer gespritzt. Nach einer Weile fielen die ersten Fett-Tropfen auf die Buchenscheite.
Bald war der ganze Hof von weißem Rauch eingenebelt. Teddy und Lilly,
die die ganze Zeremonie kannten, saßen links und rechts von dem Räucherfaß
und warteten auf den Augenblick, an dem das Feuer gelöscht und die Aale
herausgeholt wurden. Die Aale hatten jetzt eine goldbraune Farbe; das Fett lief
noch herunter und tropfte auf den Boden. Teddy und Lilly leckten jeden Tropfen
auf. Als dann der erste Aal - noch warm - aufgeteilt und gegessen wurde, warteten
beide auf die Haut und auf den Kopf. Lilly war wohl schneller als Teddy, was
den Kopf betraf, aber Teddy hatte viel mehr Haut abbekommen.
Eines Tages entdeckten Friedel und ich, daß sich Teddy dauernd kratzte.
Dann bekam ich selber ein unerträgliches Juckgefühl. Teddy hatte Flöhe.
Friedel holte eine große Emaillewanne, goß warmes Wasser hinein,
nahm ein Stück Kernseife - und dann wurde Teddy in die Wanne gesetzt und
von den Blutsaugern befreit. Meine Mutter sah zu und amüsierte sich. Dann
gingen wir schlafen. Am nächsten Tag kam Trude mit mehreren Körben
voller Preiselbeeren an. Es wurde Marmelade gekocht und es duftete verführerisch.
Meine Mutter war nicht da; sie war bei irgendwelchen Verwandten im Dorf. Als
sie zurückkam, fiel sie bald in Ohnmacht und sagte: "Von dieser Marmelade
rühre ich nichts an!" Sie hatte nämlich gesehen, daß die
Marmelade in derselben Wanne gekocht wurde, in der am Tag zuvor Teddy von Friedel
und mir gebadet worden war. Ich war da weniger empfindlich. Mir hatte die Marmelade
jedenfalls geschmeckt.
Ein paar Grundstücke weiter wohnte eine Tante Mathilde Klabunde,
die eine Nichte meiner Großmutter Mathilde Heinrich und somit eine echte
Cousine meiner Mutter war. Dort war auch Besuch aus Berlin, und zwar Mathilde
Klabundes Schwester Anna Mack mit ihren Söhnen Günter
und Ottchen. Günter muß sieben Jahre alt gewesen sein und
Ottchen war wohl vier. Natürlich gehörte auch dort ein Hund zum Anwesen
Es war eine braun-weiß gefleckte Foxterrier-Hündin, die Seppl
genannt wurde. Seppl konnte tanzen. Auf Aufforderung stellte sie sich
auf die Hinterbeine und drehte sich um ihre eigene Achse. Teddy und Seppl waren
offensichtlich miteinander verwandt, aber die Art der Verwandtschaft war sicherlich
mindestens genauso kompliziert wie bei den Verwandtschaftsverhältnissen
der Besitzer.
Dann lernte ich auch Kurt Hübner, den Bruder von Trude und Friedel,
kennen. Ich werde ihn wegen einer sehr unerfreulichen Begebenheit nie vergessen.
Die Katze Lilly, die bisher sehr rund ausgesehen hatte, war auf einmal sehr
schlank. Friedel vermutete, daß sie Nachwuchs bekommen hätte. Friedel
wußte auch, wo sich Katzen ihr Nest bauen und führte mich in die
Scheune auf den Heuboden. Und sie fand tatsächlich vier Kätzchen,
die gerade erst wenige Tage alt waren. Natürlich erzählte Friedel
den anderen Familienmitgliedern von dieser Neuigkeit. Eine Reaktion erfolgte
nicht. Ein paar Tage später war Kurt, der Bruder von Friedel und Trude,
da. Er war zur Wehrmacht eingezogen und war in der Nähe in Hammerstein,
wo sich ein Truppenübungsplatz befand, stationiert. An den Wochenenden
gab es Ausgang, und diese Kurz-Urlaube wurden oft zu Hause verbracht. Kurt war
entweder ein Jahr älter oder ein Jahr jünger als Trude, genau wie
sie blond und mit blauen Augen, aber mit etwas gewelltem Haar und der Knollennase
seines Vaters Paul. Ihm fehlte völlig der Adel, den Trude auszeichnete.
Kurt war sehr von sich eingenommen. Meine Anwesenheit nahm er überhaupt
nicht zur Kenntnis; ich existierte für ihn offensichtlich überhaupt
nicht.
Irgendwann fragte Kurt, wo die kleinen Katzen seien. Friedel und ich gingen
arglos in die Scheune und wiesen ihm den Weg in die Heuboden-Ecke, wo Lilly
sich ihr Nest gebaut hatte. Kurt, der einen Korb mitgenommen hatte, kletterte
die Leiter hoch, nahm die vier kleinen Kätzchen aus dem Nest und kletterte
die Leiter wieder herab. Friedel und ich glaubten, er wolle die Katzen zu irgendwelchen
anderen Leuten bringen, doch da nahm Kurt eine der kleinen Katzen, holte aus
und warf sie mit voller Wucht an die Wand, von der sie leblos herabfiel. Als
wir begriffen hatten, was da vor sich ging, fiel ich Kurt in den Arm und schrie
dabei, doch Kurt schüttelte mich ab und schleuderte die übrigen drei
Kätzchen ebenfalls an die Wand. Dann warf er sie nacheinander auf den Misthaufen.
Ich lief dann in das Haus und erzählte atemlos meiner Mutter und meiner
Großmutter von der Untat. Dann warf ich mich auf das Bett, heulte und
war den ganzen Tag nicht ansprechbar. Am nächsten Tag war Kurt nicht mehr
da; ich brauchte ihn also nicht mehr zu ertragen.
Zwei Tage später - ich war mit Teddy an der Küddow, um zu baden -
kam der vierjährige Otto mit einem Eimer an. In dem Eimer waren vier kleine
Kätzchen, wahrscheinlich erst wenige Tage alt. Ich wußte erst nicht,
was Ottchen mit den Katzen am Wasser wollte. Ottchen watete in die Küddow,
kippte den Eimer mit den Kätzchen aus und drückte sie unter die Wasseroberfläche,
um sie zu ertränken. Ich erstarrte erst, doch dann packte mich eine maßlose
Wut, daß so ein Knirps Herr über Leben und Tod von unschuldigen Tieren,
die sich nicht wehren konnten, spielte. Ich schrie ihn an, nahm seinen Kopf
und drückte ihn unter die Wasseroberfläche, so wie er es gerade mit
den kleinen Katzen gemacht hatte. Nach ein paar Sekunden ließ ich ihn
wieder nach oben. Es sollte eine Lehre sein. Ottchen fing fürchterlich
an zu brüllen. Die Verwandten kamen und holten ihn aus dem Wasser. Dann
hieß es unter den Verwandten, ich hätte Ottchen grundlos
umbringen wollen. Mein Motiv für Ottchens Bestrafung wurde überhaupt
nicht begriffen. Aber auf dem Lande hat man häufig ein anderes Verhältnis
zu Tieren als in der Stadt. Tiere werden ausschließlich nach ihrer Nützlichkeit
bewertet. Und man sieht - auch heute noch - viel Gedanken- und Gefühllosigkeit.
Es sei nur an das Los von Hunden erinnert die ihr ganzes Leben angekettet und
völlig verhaltensgestört sind, an Schweine, die niemals aus ihrer
engen Zelle im stinkenden Stall herauskommen, oder an Hühner, die ihr ganzes
kurzes Leben in Legebatterie-Käfigen zubringen müssen, wobei die Käfige
kaum größer sind als das Huhn selbst.
Aber nun zurück nach Klein-Küdde in Hinterpommern. Bei der Tante Mathilde
traf dann noch jemand aus Berlin ein, der mir als Tante Erna vorgestellt
wurde. Es war eine weitere (von sieben!) Schwestern der Mathilde Klabunde. Ich
war des Kennenlernens immer weiterer Verwandter inzwischen überdrüssig
und sagte nur: "Was denn, noch 'ne Tante?"
Dann traf ein Telegramm ein. Trude las, erstarrte, brach in Tränen aus
und verschwand in ihrem Zimmer, wo sie sich einschloß. Dann erfuhr ich
den Grund: Ein weiterer Verwandter namens Paul Schmidt war gleich zu
Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion gefallen. Dieser Paul war der Sohn
meiner Großtante Ida Schmidt, einer Schwester meiner Großmutter
Mathilde. Paul war Berufsoffizier und sah sehr gut aus. Und Trude war bis über
beide Ohren verliebt in ihn, obwohl Paul bereits verheiratet war und mit seiner
Frau Aline zwei Kinder hatte. Zwischen Tante Ida und ihrer Schwiegertochter
Aline war das Verhältnis nicht besonders herzlich, und so machte sich Trude
offensichtlich Hoffnungen, daß die Ehe auseinandergehen würde und
sie den Platz an Pauls Seite einnehmen könne. Alle diese Träume waren
nun vorbei.
Der Rest der Ferien verging in gedrückter Stimmung. Als wir wieder nach
Hause fuhren, waren meine Großmutter und meine Mutter mit Schinken, Würsten
und Eiern beladen; auch ich hatte irgendetwas zu schleppen. Teddy und Seppl
habe ich nicht wiedergesehen. Was 1945 bei der Vertreibung aus ihnen geworden
ist, habe ich nie erfahren.