Vorwort

Gesellschaftskritik ist ein Begriff, mit dem viele Menschen nicht viel anfangen können. Mancher denkt vielleicht an Karl Marx, an Bertold Brecht oder an einige moderne Theater- und Opernregisseure. Doch das ist viel zu wenig. Das wohl bekannteste und verbreitetste Buch der Welt - die Bibel - besteht nahezu ausschließlich aus Gesellschaftskritik, zum großen Teil verpackt in Gleichnissen und Wunder-Berichten. Viele dieser für den jeweiligen Herrscher (oder für die Herrschenden allgemein) oft unerwünschten Gedanken und Überlegungen mußten mehr oder weniger verschlüsselt niedergeschrieben werden.

Im alten Griechenland - dem Mutterland der Demokratie - erfolgte die Gesellschaftskritik vorwiegend im Theater. Man denke nur an Aristophanes und seine beißende Satire "Die Vögel", in der Gründung und Fall eines Staates karikiert werden.

William Shakespeare geißelte in seinen insgesamt 20 Königs- und Historiendramen Machtgier und rücksichtslosen Absolutismus. Um der Macht willen wurden Kriege vom Zaun gebrochen und Länder verwüstet. Wie immer war die Bevölkerung, waren die einfachen Menschen betroffen, die Habe, Gesundheit oder ihr Leben verloren. "Es ist was faul im Staate Dänemark" heißt es in seinem "Hamlet". Doch "Dänemark" ist in diesem Fall überall.

Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller verpackten ihre Gesellschaftskritik in Theaterstücke. So nahmen Goethe in seinem "Egmont" und Schiller in seinem "Don Carlos" die Unterdrückung der Niederlande durch das damals mächtige Spanien als historischen Hintergrund für ihre Trauerspiele. Ludwig van Beethoven und Giuseppe Verdi komponierten dazu packende Musiken, die die Charaktere der handelnden Personen noch heller beleuchteten, um den Blick der Zuschauer und -hörer für das Wesentliche zu schärfen.

 

Doch die Wirklichkeit ist nicht weit von der Dichtung,vom Theater und von der Oper entfernt. Wir sind in den vergangenen Jahren, Monaten und Wochen zu Zeugen eines Trauerspiels von geradezu antiker Größe geworden. Ein mächtiger Herrscher, der auf der anderen Seite der Erde residiert, behauptete ständig und lautstark, daß ein weniger mächtiger Diktator Massenvernichtungsmittel besäße, mit Terroristen paktiere und das große Land auf der anderen Seite der Erde bedrohe. Mehrere Länder auf dieser Seite der Erde, die unter einem Krieg, den ein anderer Diktator vom Zaun gebrochen hatte, sehr gelitten hatten, stellten sich den Kriegstreibereien des mächtigen Herrschers auf der anderen Seite entgegen. Doch es nützte alles nichts. Der mächtige Herrscher von der anderen Seite der Erde, der auf dieser Seite der Erde überhaupt nichts zu suchen hat, begann seinen Krieg und warf - wie schon vor knapp 60 Jahren - tonnenweise Bomben auf Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen und andere zivile Gebäude ab, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Der Effekt war - vor 60 Jahren genau wie jetzt - daß die Bevölkerung die Angriffe als gegen sich gerichtet auffaßte und sich hinter Staat und Regierung stellte. Die Furcht-und-Schrecken-Strategie der Generäle machte einen Aufstand der Bevölkerung gegen ihre Regierung unmöglich. Die Kriege gingen weiter. Die Generäle und ihr Minister hatten nichts gelernt.

Jetzt ist das Land zerstört. Tausende Zivilisten sind tot. Die Zahl der Verletzten und Verstümmelten wagt keiner laut auszusprechen. Doch Massenvernichtungsmittel hatte man nicht gefunden. Der Krieg wurde somit grundlos und ohne jegliche Legitimation geführt. Es ging in Wirklichkeit überhaupt nicht um die Zerstörung von Massenvernichtungsmitteln, sondern es ging und geht einzig und allein um Bodenschätze, nämlich um die riesigen Ölvorkommen in dem betroffenen Land. Jetzt herrscht Unruhe in diesem Land; nahezu täglich wird von Sprengstoff-Explosionen, Entführungen, Geiselnahmen und Selbstmord-Attentaten berichtet. Das Land ist nicht mehr regierbar.

Doch anstatt den großen Brandstifter auf der anderen Seite der Erde vor ein Kriegsverbrecher-Tribunal zu stellen, machen die anderen kleinen Herrscher und Fürsten von dieser Seite der Erde dem großen Herrscher schon wieder ihre Aufwartung und bitten um gut Wetter.

Wären die kleinen Herrscher und Fürsten von dieser Seite der Erde in der Literatur bewanderter, wüßten sie, daß Friedrich Schiller in einem seiner großen Historien-Dramen seinem Helden den Satz in den Mund gelegt hat:

Vereint sind auch die Schwachen mächtig!

Wenn man nämlich die Anzahl der Menschen in den Ländern, die den Krieg ablehnten, addiert, dann kommt man auf eine Zahl, die erheblich größer ist als die Anzahl der Bewohner im Reich des großen Herrschers auf der anderen Seite der Erde. Nun erhebt sich die große Frage: Warum haben die Menschen auf dieser Seite der Erde nicht den Mut, sich den Plänen einer Handvoll Kriegstreiber auf der anderen Seite der Erde entgegenzustellen???


Gesellschaftskritik ist unbedingt notwendig. Sie hat das Ziel, die Menschen zum Nachdenken zu bringen, zum Nachdenken über seine eigene Situation. Die Bühne als moralische Anstalt hat mehrere Male in der Geschichte politische Aktionen ausgelöst.

Im Jahre 1830 waren nach der Aufführung der Revolutions-Oper "Die Stumme von Portici" von Daniel Francois Esprit Auber in Brüssel die Besucher, die die Handlung auf ihre eigene Situation bezogen, so erregt, daß der Funke auf die Menschen in der Stadt und auf das Land übersprang und es zu einer richtigen Revolution kam, die zur Errichtung des Königreiches Belgien führte.

In Italien hatten die Opern Giuseppe Verdis - vor allem Nabucco - einen ungeheuren Einfluß auf die Haltung der Bevölkerung. In der Unterdrückung der Juden durch den Iraker-Diktator Nebukadnezar sahen die Italien gleichsam ihr eigenes Schicksal auf der Bühne dargestellt. Italien war damals geteilt. Venezien im Norden gehörte zu Österreich, und im Süden gab es das unter französischem Einfluß stehende Königreich Neapel. Verdis Name wurde ein Symbol für die Bestrebungen zur Erlangung der nationalen Einheit: Vittorio Emanuele Re d' Italia. Im Jahre 1861 war es dann endlich soweit. Viktor Emanuel II wurde zum ersten König von Italien ausgerufen.

In den Opern Boris Godunow und Chowanstschina von Modest Mussorgskij nach Vorlagen von Alexander Puschkin werden Machtgier, Mord, Unterdrückung und Revolution auf die Bühne gebracht. Die Oper Boris Godunow endet in ihrer Originalfassung mit einer Revolutionsszene nach dem Tod des Zaren. Die Oper Chowanstschina endet mit dem Feuertod der "Altgläubigen". Wenige Jahrzehnte später holte die Wirklichkeit das Geschehen auf der Bühne ein.

Gesellschaftskritik kann sich in vielen Formen verstecken. Von der italienischen Commedia dell' arte , in der nicht individuelle Personen, sondern Typen agieren, über die Bouffes von Jacques Offenbach bis zur "West Side Story" von Leonard Bernstein zieht sich ein roter Faden.

Und es darf nicht das politische Kabarett vergessen werden. Die "Insulaner", das "Kom(m)ödchen", die "Stachelschweine", die "Distel", die "Pfeffermühle" und der "Scheibenwischer" haben mehr auf das allgemeine politische Bewußtsein eingewirkt als die Holzhammermethode bestimmter Zeitungs- Rundfunk- und Fernseh-Kommentatoren.

Und das war gut so!

Doch inzwischen hat sich sehr viel geändert. Die "Insulaner" gibt es schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. Das "Kommödchen" ist auch schon eine Legende. Die "Distel" und andere Ensembles sind bei den Fernseh- und Rundfunk-Gewaltigen ganz offensichtlich in Ungnade gefallen. Nur der "Scheibenwischer", der schon eingestellt werden sollte (nachdem bereits seine Sendezeit scheibchenweise gekürzt worden war), blieb dank der massiven Zuschauer-Proteste erhalten; allerdings wurde seine Sendezeit in die (sehr) späten Abendstunden verlegt. Es ist offensichtlich, daß den Politikern gesellschaftskritische Sendungen, die dank ihres "Sendeformats" ein viel größeres Publikum haben als "ernste" Polit-Beiträge, überhaupt nicht in den Kram passen. Also wird versucht, die Zuschauerzahl durch die Verlegung in die späten Nachtstunden so klein wie möglich zu halten.

Und das ist nicht gut so!

 

Musik: Sergej Prokofiew, Musik zum Film "Alexander Newskij"