Das Ende des Euros?

In der hervorragenden "Reform"-Analyse des ehemaligen Kanzlerberaters Alfred Müller (siehe das Kapitel "Der Reformwahn") findet sich der folgende Satz:

"Die besonders schlechte Entwicklung in den meisten europäischen Ländern hat nichts mit einem behaupteten Reformstau und viel mit der permanenten prozyklischen Bremserei von Zentralbank und Finanzpolitik zu tun."

Quelle: DER TAGESSPIEGEL Nr. 18575 vom 30.8.2004, Seite 5

Da sich wahrscheinlich die meisten Leser dieser Zeilen nichts unter einer "permanenten prozyklischen Bremserei" vorstellen können, seien hier einige Erläuterungen gegeben.

Der britische Volkswirtschaftler, Diplomat und Publizist  John Maynard Keynes (1883 bis 1946)  galt bis Anfang der 70er Jahre als der führende Vertreter einer modernen Volkswirtschaftslehre, die er auf eine neue Grundlage stellte (v.a. in »The general theory of employment, interest and money«, 1936; deutsch »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«).

Ausgehend von der Frage nach der Höhe der Beschäftigung, die von der effektiven Nachfrage abhängt, gelangte er zur Frage nach der Höhe des Volkseinkommens. Als Bestimmungsgrößen des Volkseinkommens erkannte er die Konsum- und die Sparneigung (»Hang zum Verbrauch oder Sparen«, abhängig vom Einkommen) und die Investitionsneigung (»Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals«, abhängig von der Rentabilität der Investition). Die Investitionen werden durch die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und durch den Zins bestimmt, wobei der Zins eine Funktion der Geldmenge sowie der Liquiditätspräferenz ist. Die Auswirkungen einer Änderung der Nettoinvestition auf das Volkseinkommen errechnet Keynes durch den Multiplikator (Theorie des Investitionsmultiplikators).

Keynes distanzierte sich von der Auffassung der klassischen Nationalökonomie, wonach das sich bei freier Konkurrenz einspielende Preis-, Lohn- und Zinsniveau automatisch zur Vollbeschäftigung führe (»The end of laissez-faire«, 1926; deutsch »Das Ende des laissez-faire«) und wies nach, dass diese Theorie nur den Sonderfall der Entstehung und Verteilung des Volkseinkommens bei Vollbeschäftigung behandelte.

Keynes fand für seine beschäftigungs- und geldtheoretischen Auffassungen zahlreiche Anhänger. Die heutige Volkswirtschaftslehre hat sein Kreislaufmodell übernommen und weiterentwickelt; seine Erkenntnisse haben in die Wirtschaftspolitik vieler westlicher Länder Eingang gefunden ("Keynesianismus").

Der "Keynesianismus" überträgt dem Staat die Aufgabe, aktiv auf Vollbeschäftigung und eine gleichmäßigere Verteilung von Staat und Vermögen hinzuwirken. Dabei soll der Staat vor allem Einbrüche der privaten Nachfrage auffangen, indem er seine Ausgaben erhöht und dafür auch vorübergehende Haushaltsdefizite in Kauf nimmt (deficit spending). Die generelle Ausweitung staatlicher Ausgaben in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war zum einen darauf zurückzuführen, dass sozialstaatliche Systeme aufgebaut wurden, deren Leistungen die Empfänger durch Konsum wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückführten, zum anderen auf umfassende öffentliche Aufträge zum Ausbau der (Verkehrs-)Infrastruktur und für die Rüstungsindustrie. Die keynesianische Wirtschaftspolitik stieß auf einen breiten Konsens bei Unternehmen und Gewerkschaften und führte zur Kooperation zwischen beiden Lagern.

Westeuropa und Japan entwickelten dabei ein stärkeres Wachstum als die USA. Dies war weniger Folge unterschiedlicher Konjunkturpolitiken als vielmehr Resultat eines Aufholprozesses, da die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Produktionskapazitäten insbesondere in Deutschland und Japan ausgeglichen werden mussten. Zugleich entwickelten sich die meisten westlichen Industrieländer erst in den Nachkriegsjahrzehnten zu modernen Konsumgesellschaften, deren wirtschaftliches Fundament in der Herstellung und Nutzung langlebiger Konsumgüter (Automobile, Immobilien, Unterhaltungselektronik) bestand. Die USA hatten dieses Entwicklungsstadium zumindest ansatzweise schon in den Zwanzigerjahren durchlaufen. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre führten deshalb auch zu einer tendenziellen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsstärke zwischen den OECD-Ländern.

Die Siebzigerjahre brachten das Ende der ökonomischen Stabilität, der Vollbeschäftigung und des kontinuierlichen Wachstums. Im Zeitraum 1973 bis 1985 wuchsen die Volkswirtschaften der OECD-Länder im Durchschnitt nur noch um real 2,3 Prozent im Jahr. Mit Ausnahme Japans verzeichneten die westlichen Industrieländer in den nun häufiger auftretenden Konjunkturkrisen mitunter sogar einen Rückgang des Sozialprodukts. Die Siebzigerjahre waren die Zeit der »Stagflation«, einer Kombination aus Stagnation und Inflation. Während sich in der 1.Hälfte der Achtzigerjahre in den USA und dem ohnehin weniger betroffenen Japan eine wirtschaftliche Erholung abzeichnete, konnten die meisten westeuropäischen Länder ihre Wachstumsprobleme nicht lösen. Hinzu kam in der 1.Hälfte der Siebzigerjahre ein allmählicher Übergang von festen zu flexiblen Wechselkursen. Das währungspolitische Umfeld verlor damit an Stabilität und bot einen verstärkten Anreiz zu teilweise stark spekulativen Devisengeschäften. In Verbindung mit der schon über ein Jahrzehnt zuvor einsetzenden Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs kam eine neue Entwicklung in Gang: der von realen Waren- und Dienstleistungsgeschäften weitgehend abgekoppelte Boom internationaler Kapitalströme.

Gravierender waren die Probleme in der Binnenwirtschaft. Das fast ungebrochene Wachstum der Fünfziger- und Sechzigerjahre hatte vor allem bei den Wirtschaftspolitikern die Überzeugung reifen lassen, das Zeitalter der Wirtschaftskrisen sei endgültig überwunden. Die permanente Erhöhung staatlicher Sozialleistungen förderte den privaten Konsum, wurde aber auch mit einer steigenden Staatsverschuldung erkauft, die die Kapitalmärkte belastete und zu ständigen Preissteigerungen führte. In Westeuropa vor allem in Westdeutschland, Frankreich und Italien konnten die politisch relativ starken Gewerkschaften in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren zudem wiederholt kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen, die nicht an der gängigen Formel Produktivitätswachstum plus Inflationsausgleich orientiert waren, sondern auf eine Umverteilung von oben nach unten hinausliefen. Diese »Lohnexplosionen« setzten eine Lohn-Preis-Spirale in Gang. In der 2.Hälfte der Siebzigerjahre verzeichneten die OECD-Länder Preissteigerungsraten zwischen 6 Prozent (Deutschland) und über 24 Prozent (Großbritannien). Fast alle Regierungen versuchten, die Preisstabilität durch restriktive Maßnahmen (Verknappung der Geldmenge) wiederherzustellen, würgten damit aber die Konjunktur ab. Schnell wurde deshalb wieder der Expansionskurs eingeschlagen und in der 2.Hälfte der Siebzigerjahre setzte eine leichte Erholung ein, gepaart mit einer relativen Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Stimuliert wurde die Nachfrage in den Industrieländern durch die starke Öffnung und Expansion der internationalen Kapitalmärkte. So legten die arabischen Staaten ihre Gewinne aus den Erdölgeschäften entweder in den hoch entwickelten Volkswirtschaften an oder kauften dort Investitions- bzw. Rüstungsgüter. Hinzu kam noch ein weiteres Problem: Mit der Stagflation hatte sich seit Mitte der Siebzigerjahre auch die Arbeitslosigkeit immer mehr ausgebreitet und schlimmer noch festgesetzt.

Als Hauptursache der Krise wurde zunehmend eine verfehlte Wirtschaftspolitik gesehen. Seit Ende der Siebzigerjahre vollzog sich ein Umbruch vom nachfrageorientierten Keynesianismus hin zum angebotsorientierten Neoliberalismus. Politische Vorreiter waren dabei in Großbritannien Premierministerin Margaret Thatcher und in den USA Präsident Ronald Reagan. Das Konzept der angebotsorientierten Politik basiert im Wesentlichen darauf, verbesserte Investitions- und Produktionsbedingungen für Unternehmen zu schaffen, in erster Linie über eine Kostenentlastung und die Intensivierung des Wettbewerbs. Dies setzt unter anderem den weitestmöglichen Rückzug des Staats aus dem Wirtschaftsgeschehen voraus durch Privatisierung, durch Deregulierung, das heißt den Abbau von Auflagen innerhalb einzelner Branchen, sowie durch Steuersenkungen und die Reduzierung staatlicher Sozialleistungen. Die Regierung Reagan nahm zwar Kürzungen bei den Sozialprogrammen vor, erhöhte aber zugleich die Rüstungsausgaben stark, um gegenüber der Sowjetunion Stärke zu demonstrieren. Entgegen der offiziellen Rhetorik liefen die Reaganomics damit de facto auf einen »Militärkeynesianismus« hinaus und trugen wesentlich zur Ausweitung der bestehenden Budgetdefizite bei. Dessen ungeachtet konnten die USA in der 1.Hälfte der Achtzigerjahre das insgesamt stärkste Wirtschaftswachstum unter den westlichen Industrieländern verzeichnen, gefolgt von Großbritannien, dessen Wirtschaft ebenfalls einer neoliberalen »Rosskur« unterworfen wurde.

Die höchsten Zuwachsraten konnte jedoch aufgrund seiner aggressiven Exportstrategie Japan vorweisen. In den USA und Westeuropa löste das »asiatische Wunder« eine heftige Diskussion um die eigene, offensichtlich mangelhafte internationale Wettbewerbsfähigkeit aus. Besonders betroffen waren die traditionellen Branchen des verarbeitenden Gewerbes. In den USA kam deshalb die Furcht vor einer Deindustrialisierung des Landes auf. Tatsächlich blieb der Anteil des Industriesektors am Bruttosozialprodukt mit rund 25 Prozent relativ konstant, allein weniger Arbeitskräfte kamen zum Einsatz. Diese fanden neue Beschäftigungsmöglichkeiten im aufblühenden Dienstleistungssektor, sodass die amerikanische Wirtschaft seit Mitte der Achtzigerjahre ein »Beschäftigungswunder« erlebte. Der Rückgang der Erwerbslosigkeit war unter anderem ein Ergebnis der teilweise schmerzhaften, aber wirkungsvollen Reformen, insbesondere der Deregulierungsmaßnahmen. Auch in den meisten westeuropäischen Ländern kamen Regierungen, die eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgten, an die Macht, erwiesen sich aber als deutlich gemäßigter oder politisch weniger durchsetzungsfähig.

Im Rückblick erscheint die in den frühen Siebzigerjahren ausgebrochene Dauerkrise nicht vorrangig als konjunkturpolitisches Problem, sondern als Strukturkrise, als Beginn des Umbruchs von der klassischen Industrie- zur modernen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Die staatliche Wirtschaftspolitik entschied dabei über die Geschwindigkeit, mit der dieser Strukturwandel bewältigt wurde. Die USA, Großbritannien und Japan bildeten hierbei die Vorhut, allerdings auch mit dem Ergebnis, dass die Einkommens- und Vermögensschere größer wurde und sich mehr soziale Kälte in diesen Gesellschaften ausbreitete. In den meisten Ländern Westeuropas wurde der Strukturwandel hinausgezögert um den Preis schwächeren Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit.

Quelle: Der Brockhaus in Text und Bild, © 2002 Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG (Auszüge)

Der Keynesianismus hat die Volkswirtschaft als ein Kreislauf-Modell beschrieben. Der Staat habe die Aufgabe, aktiv auf Vollbeschäftigung und eine gleichmäßigere Verteilung des Vermögens hinzuwirken. Durch vermehrte öffentliche Aufträge habe der Staat die Möglichkeit, bei Nachfrage-Einbrüchen die Konjunktur wieder zu beleben. Durch den damit wieder angekurbelten Konsum wird das Steueraufkommen höher, sodaß die vom Staat getätigten Investitionen wieder an den Staat zurückfließen.

Das keynesianische Kreislauf-Modell wurde durch die Gewerkschaften zerstört. Die Gewerkschaften setzten in regelmäßigen Abständen Lohnerhöhungen durch, die weit über der tatsächlichen Inflationsrate lagen. Die Politik der Gewerkschaften war und ist als ein Versuch zu werten, Vermögen von oben nach unten zu verteilen. Der Arbeitgeberseite - auch dem Staat selbst - ist der Vorwurf zu machen, daß sie aus Bequemlichkeit die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften weitgehend gescheut und stattdessen die durchgedrückten Lohnerhöhungen durch ständige Erhöhung der Preise für Waren und Dienstleistungen finanziert hatte. Das haben wiederum die Gewerkschaften zum Anlaß genommen, erneut mehr zu fordern und in der nächsten "Tarifrunde" weitere Lohnerhöhungen durchzudrücken. Und die Politiker sahen dieser verhängnisvollen Lohn-Preis-Spirale weitgehend tatenlos zu.

Die Lohn-Preis-Spirale macht deutsche Waren und deutsche Dienstleistungen zu teuer. Für ein exportabhängiges Land war und ist diese Entwicklung eine Katastrophe. Die Folgen waren und sind Firmenschließungen oder die Verlagerung von Fertigungsstätten in andere Länder, verbunden mit einer entsprechenden "Freisetzung" von zu teueren Arbeitskräften im eigenen Lande. Doch je weniger Arbeitnehmer in Lohn und Brot sind, desto weniger kann konsumiert werden, denn die staatlichen Leistungen (Arbeitslosengeld II = "Hartz IV") reichen noch nicht einmal für das Notwendigste. Der Handel und die Konsumproduktion kommen in immer weitere Schwierigkeiten; es werden noch mehr Arbeitsplätze abgebaut und immer neue Arbeitslose produziert, die ihrerseits dann wieder kein Geld für den Konsum haben. Diesen zyklischen Effekt nennt man "Rezession".

Nach den Erkenntnissen von J. M. Keynes müßten sich Zentralbank und Finanzpolitik dem Rezessionszyklus entgegenstellen ("antizyklisches" Verhalten), um ihn zu stoppen. Während in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur Kredite verteuert werden können, müßten in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges Kredite massiv verbilligt werden, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch genau das Gegenteil wird heute praktiziert. Früher hatte die Bundesbank das Instrument des Diskontsatzes, mittels dessen die Höhe der Kreditzinsen gesteuert werden konnte. Doch der Diskontsatz wurde im Vertrag von Maastricht abgeschafft.

Die Verfechter des Thatcherismus-Reaganismus - fälschlich als "Neo-Liberalismus" schöngeredet - wollen die soziale Entwicklung, die in den europäischen Ländern in letzten 150 Jahren stattgefunden hatte, zurückdrehen und zu einem Brutalkapitalismus nach dem Vorbild der USA zurückkehren.

Der Staat müsse jegliche eigene Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen aufgeben und alles dem freien Wettbewerb überlassen; dann werde sich alles von selbst regulieren. Die Folge dieser Doktrin war und ist der staatliche Privatisierungswahn. In Deutschland hatte der Staat einst einen beachtlichen Teil des Wirtschaftsgeschehens selbst bestimmen können. Bahn, Post, Wasser- und Elektrizitätswerke, Gaswerke und Abfallentsorgungsbetriebe waren Staatsbetriebe. Es hatte viele Jahrzehnte gedauert, bis die einstige Deutsche Reichsbahn und die einstige Deutsche Reichspost unter Dach und Fach gebracht werden konnten. Diese gewachsenen und bewährten Strukturen sind von den blindgläubigen Anhängern des Thatcherismus-Reaganismus mutwillig durch "Privatisierung" zerstört worden. Und warum? Weil das übergroße Vorbild, die USA, es niemals geschafft hatte, vergleichbare Strukturen im eigenen Lande herbeizuführen.

Jetzt ist es nicht mehr die Aufgabe der ehemaligen Staatsbetriebe, vorrangig für die Bevölkerung da zu sein, sondern jetzt ist es allein die Aufgabe dieser Betriebe - oder was davon noch übriggeblieben ist - eine möglichst hohe Dividende für die Aktionäre ausschütten zu können. Für den Staat ist eine solche Konstellation sehr bequem: er ist nur noch "Aktionär" und kann über den Aufsichtsrat - die Vertretung der Aktionäre - Forderungen an das Unternehmen stellen, hat aber selbst keine Verantwortung mehr für das "Privat"-Unternehmen.

Wenn dann das betreffende Unternehmen an die Börse geht, um sich durch Verkauf von Neu-Aktien Kapital zu beschaffen, und wenn sich eines Tages die Aktienmehrheit dann nicht (bzw. nicht mehr) in deutschem Besitz befindet, kommen die ausgeschütteten Dividenden (entsprechend den Aktien-Anteilen) den Aktionären in anderen Ländern zugute und verbleiben nicht in unserem Land. Die Besitzer der Aktienmehrheiten können dann in unseren Unternehmen schalten und walten, wie sie wollen. Der Betrieb wird zum Spielball von Börsen-Spekulanten. Es gibt "feindliche Übernahmen" und andere Auswüchse der "Globalisierung". Und Aktionäre in den USA oder in Japan dürften kaum daran Interesse haben, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten oder neue zu schaffen. Es gilt nur noch, den Gewinn zu steigern - koste es, was es wolle! Und wenn keine Gewinne mehr kommen und die Aktienkurse in den Boden fallen, wird der Betrieb in ein Billig-Lohn-Land verlagert oder ganz einfach geschlossen.

Die Privatisierung der Staatsbetriebe hat der Bevölkerung ausschließlich Nachteile beschert. Bei der Deutschen Bahn AG. werden laufend Strecken stillgelegt, wenn sie sich "nicht rechnen". Personal wird abgebaut; es werden neue Arbeitslose produziert. Nebenstrecken werden manchmal an andere Bewerber "ausgeschrieben". Dann fahren Züge anderer Betreiber auf den Gleisen der Deutschen Bahn - wenn sie überhaupt fahren. Die Bahnhöfe in den großen Städten sind zu Kaufhäusern und Märkten entartet. Doch der Bahn-Service wird immer weiter abgebaut. Auf vielen Bahnhöfen kann man Fahrkarten nur noch aus Automaten bekommen, doch die Bedienung dieser Automaten ist extrem kompliziert. Es ist als Glücksfall zu bezeichnen, wenn der Automat tatsächlich eine Fahrkarte ausspuckt. Und hinsichtlich der Unpünktlichkeit der Züge, der Höhe der Fahrpreise und eines völlig unübersichtlichen Tarif-Dschungels hat sich die Deutsche Bahn AG. in den letzten Jahren ein kaum noch zu übertreffendes Negativ-Image erworben.

Bei der Deutschen Post AG. werden laufend Postämter geschlossen und Briefkästen abgebaut. Dann kam der Gang an die Börse. Von diesem Zeitpunkt geschieht alles ausschließlich zum Wohle der Aktionäre - nicht jedoch zum Wohle der Bevölkerung.

Ähnlich ist es bei den Versorgungsunternehmen (Elektroenergie, Wasser und Abwasser, Gas). Hier wird ständig an der Preisschraube gedreht.

Die verhängnisvolle Rolle der sogenannten "Treuhand-Gesellschaft" in den östlichen Bundesländern hatte ihre ideologische Grundlage im Thatcherismus-Reaganismus. Diese Behörde unter Birgit Breuel hat die "neuen" Bundesländer gezielt entindustrialisiert; der Thatcherismus-Reaganismus hat in den "neuen" Bundesländern die höchste Arbeitslosenquote seit der Weltwirtschaftskrise produziert und hat seit der Wende eine beispiellose Abwanderung von Arbeitskräften nach Westdeutschland bewirkt.

Kernpunkt der Ideologie des Thatcherismus-Reaganismus ist die radikale Senkung aller Staatsausgaben. So werden auch Ausbildung, Bildung und Kultur Opfer des Rotstiftes. Alles nach dem Vorbild der USA. Die Gewalt an den Schulen steigt und das Bildungsniveau sinkt ständig. Schulen, Theater und Orchester werden geschlossen oder durch "Zusammenlegung" abgewickelt. Parallel dazu geht die Verblödung des Volkes durch Fernsehen und Rundfunk (z.B. Serien wie "Big Brother", die "Dschungelshow" entsetzliche "Schlagerparaden der Volksmusik" und anderer Schwachsinn oder das Jugendlichen-Verblödungs-Radioprogramm "Fritz!) und durch die Boulevard-Presse. Das Motto: Je weniger Bildung das Volk hat, umso leichter läßt es sich manipulieren.

"Hartz IV" dient allein der Senkung der Staatsausgaben. "Hartz IV" kann keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen, denn der Staat kann dank seiner radikalen Privatisierungspolitik keine Arbeitsplätze mehr anbieten. Und dennoch tönt es unbeirrt weiter aus dem Regierungs- wie Oppositionslager und aus den Unternehmerverbänden: "Die Reformen sind richtig! Sie müssen nur richtig vermittelt werden!" Dabei gehen der "bürgerlichen" Opposition diese "Reformen" noch längst nicht weit genug.

Alfred Müller schrieb:

Die so genannten Reformer sind Gift für das, was zuallererst notwendig ist: die Verbesserung der wirtschaftlichen Stimmung, die Ermutigung zu Konsum und Investition. Jeder kann es doch sehen, wenn er durch die Innenstädte geht. Wir sind heute weit hinter die Einsichten eines Ludwig Erhard, eines Karl Schiller und Franz Josef Strauß zurückgefallen. Die wussten noch - wie übrigens fast alle großen Ökonomen von Smith über Keynes bis Schumpeter oder Stiglitz -, dass Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie ist. Sie haben der Wirtschaft und den Konsumenten Mut gemacht. Die Richtung stimmt, haben sie propagiert. Die Pferde müssen wieder saufen. Das ist heute genauso richtig wie damals. Ich kenne den Einwand. Heute sei alles anders, alles neu. Das ist die am weitesten verbreitete und zugleich die dümmste Lüge, die ich kenne.

Quelle: DER TAGESSPIEGEL Nr. 18575 vom 30.8.2004, Seite 5

Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen ist ein Bremsen der wirtschaftlichen Abwärtsspirale durch nationale finanzpolitische Maßnahmen nicht mehr möglich. Im Vertrag von Maastricht haben sich die Euro-Staaten bei der Kreditaufnahme (Neuverschuldung) auf die Einhaltung einer "Stabilitätsgrenze" von 3% des Bruttosozialproduktes verpflichtet. Bei Überschreiten dieser "Stabilitätsgrenze" in einem Euro-Mitgliedsstaat sieht der Maastrichter Vertrag die Auferlegung erheblicher Sanktionen vor.

Die Hirnrissigkeit dieses Vertrages ist offensichtlich und greifbar. Je weiter die Rezession fortschreitet, um so geringer wird auch das Bruttosozialprodukt. Damit wird zugleich auch der Absolutwert der Stabilitätsgrenze entsprechend kleiner. Die Regierungen werden also durch den "Stabilitätspakt" daran gehindert, mit Krediten dringend benötigte öffentliche Investitionen zu finanzieren und können nur noch tatenlos zusehen, wie die wirtschaftliche Situation ihres Landes immer trostloser wird. In der Bundesrepublik Deutschland gehen derzeit pro Tag 2.000 (!) Arbeitsplätze verloren (Einlassung des CDU-Generalsekretärs Laurenz Meyer unmittelbar nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen). Das bedeutet: Wir haben pro Tag  2.000 Arbeitslose mehr, die nach "Hartz IV" in absehbarer Zeit unter die Armutsgrenze rutschen sollen. Schlimmer kann es kaum noch kommen.

Die Auferlegung von milliardenschweren Sanktionen bei Überschreitung der "Stabilitätsgrenze" dürfte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des betreffenden Landes nur noch vergrößern.

Die finanzpolitische Auslieferung der Euro-Länder an die "Europäische Zentralbank" verhindert jegliche eigenständige Geld- und Zinspolitik. Im Prinzip ist die Zeit für die Einführung des Euro noch längst nicht reif gewesen. Vor der allgemeinen Einführung des Euro in den Mitgliedsländern hätten die Lebensbedingungen - Steuersätze, Rentenhöhe, Gesetze und Vorschriften, Preise bei Post und Bahn usw. - untereinander angeglichen werden müssen. Doch so viel nationale Souveränität aufzugeben war kein einziges Mitgliedsland bereit. Also blieb alles nur Stückwerk. Der einzige Effekt war ein enormer Preisauftrieb im Inland (obwohl er von den regierenden Politikern und deren Sprachrohren bis heute wider besseres Wissen vehement bestritten wird).

Der einzige Weg für die Bundesrepublik Deutschland, eine nationale Geldpolitik zu treiben, wäre das Ausscheren aus der Euro-Gemeinschaft. Dann könnte von der Bundesbank wieder eine antizyklische Geldpolitik betrieben werden. Natürlich würde der Kurs einer wiedereingeführten DM zunächst abrutschen. Doch dadurch würden deutsche Produkte und deutsche Dienstleistungen für das Ausland billiger; der deutsche Export würde infolgedessen steigen und der Anreiz für deutsche Firmen, Arbeitskräfte im Inland abzubauen und stattdessen in anderen Ländern produzieren zu lassen, würde geringer. Die Folge wäre eine Wiederbelebung des Arbeitsmarktes. Und erst dann bestünde eine Aussicht auf Überwindung der Rezession und Belebung der Konjunktur.

Doch dazu müßten die Scharfmacher in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie die inkompenten Politiker samt ihren "neoliberalen" Beratern, die seit den 70er Jahren unser Land in Grund und Boden wirtschaften, erst allesamt in der Versenkung verschwunden sein.

Wann wird das endlich soweit sein?