Der Reformwahn


Seit Monaten hören wir von den überbezahlten und von unseren Steuern lebenden Politikern und Parlamentariern immer wieder dieselbe verlogene Botschaft: "Die Reformen sind RICHTIG! Sie müssen nur besser vermittelt werden."

Jemand, der in die Mühle der Hartz-Gesetze und der Sozialgesetze gerät, jemand, der jetzt mit einem Bruchteil seines früheren Einkommens auskommen muß und seine eigenen Ersparnisse (z. B. Altersvorsorge) aufessen oder Haus und Hof verkaufen muß, bevor er irgendwelche Ansprüche an den Staat stellen darf, und alle Rentner, denen von den hochbezahlten Politikern "Nullrunden" verordnet wurden, während gleichzeitig diese Politiker sich immer höhere Bezüge selber bewilligen, dürften für eine derartige Rhetorik wenig Verständnis haben. Da gibt es nichts zu "vermitteln".

Als Beleg für die äußerst erfolgreiche Selbstversorgung der Parlamentarier, die die "Hartz-Gesetze" beschlossen haben dienen die folgenden Ausführungen:


DER TAGESSPIEGEL Nr. 18582 vom 30.08.2004, Seite 4

Im Bundestag:
Diäten rauf, Rente runter
Grüne und SPD wollen Reform der Altersbezüge


BERLIN - „Eine Diätenerhöhung", hat einmal ein Bundestagspräsident gestöhnt, „das ist wie Spießrutenlaufen." Der Mann muss es wissen, denn dem obersten Abgeordneten fallt die unpopuläre Aufgabe zu, den Vorschlag zu unterbreiten, den die Kollegen Abgeordneten sich dann in der Regel selbst bewilligen. Ein gefundenes Fressen für Populisten, die von „Selbstbedienung" reden. Dabei hat das Verfassungsgericht das Parlament geradezu auf dieses Verfahren verpflichtet. Alle Überlegungen, die Anhebung in die Hände einer höheren Instanz zu legen, etwa einer Kommission beim Bundespräsidenten, sind darum verworfen worden.
    Dabei sind die Diäten so hoch gar nicht. Nach einer ganzen Reihe von Jahren mit „Gehaltsverzicht" seit 1977 erhält derzeit ein Abgeordneter 7009 Euro brutto. Dazu kommt eine ebenfalls steuerfreie Aufwandsentschädigung von 3551 Euro, die automatisch mit der Inflationsrate steigt. Dienstreisen, Sekretärin und Mitarbeiter erstattet - im Rahmen festgelegter Grenzen - der Bundestag.

Nach dem Ausscheiden bekommen Abgeordnete längstens 18 Monate hindurch ein Übergangsgeld, das aber mit anderen Einkommen verrechnet wird. All dies ist weit gehend unumstritten.
    Der seriösen Kritik sind zwei andere Einkommensquellen ein Dorn im Auge. Das eine ist die Nebenverdienst-Erlaubnis. Bundestagsabgeordnete dürfen nebenher verdienen, so viel sie wollen, sie müssen das allerdings dem Bundestagspräsidenten anzeigen. Einige Kritiker sehen darin ein Einfallstor für eine mildere Form des Stimmenkaufs. Viel umstrittener aber ist die Altersversorgung. Dass die Volksvertreter in ihrer aktiven Zeit eher unterbezahlt sind, dafür aber viel zu schnell viel zu hohe Rentenansprüche erwerben, bestreiten selbst viele Abgeordnete nicht. Die Anwartschaften sind aufgrund der öffentlichen Debatte inzwischen niedriger als früher. Aber SPD und Grüne haben angekündigt, dass sie bei der demnächst anstehenden nächsten Diätenrunde hier noch einmal eine Verschiebung wollen: Diäten hoch - aber dafür Rente runter.
ROBERT BIRNBAUM


 

Kommentar: Ein Langzeitarbeitsloser, der früher gut verdient hat, aber jetzt durch "Hartz IV" sittenwidrigen Einkommens- und Eigentumsverlusten unterworfen wird, dürfte wohl kaum Verständnis für die Betrachtungsweise des Kolumnisten haben, der da meint, daß die Diäten (z. Zt. 7009,- € monatlich zuzüglich 3.551,- € als "Aufwandsentschädigung" zuzüglich Kosten für Dienstreisen, Sekretärin und Mitarbeiter) "so hoch gar nicht" seien und die Volksvertreter (?) in ihrer aktiven Zeit "eher unterbezahlt" seien.


Daß die Thesen der "Reformer" größtenteils haltlos sind, wird in zwei Artikeln aufgezeigt, die in der Zeitung DER TAGESSPIEGEL Nr. 18575 vom Montag, dem 23. August 2004, auf Seite 5 "Innenpolitik" veröffentlicht worden sind.

 
Der Streit um Reformen:
Ein Sozialdemokrat und ein Wissenschaftler zweifeln am Weg der Regierung
"Lass die Geschichte anders enden"
Der Kanzler hält an seinem Kurs fest. Hier schreibt ihm Albrecht Müller, Ex-Berater von Willy Brandt und Helmut Schmidt, dass er das für falsch hält.

Sehr geehrter Herr
Bundeskanzler,
lieber Gerhard Schröder
,

Reformen waren in der sozialdemokratischen Geschichte immer Veränderungen zu Gunsten der großen Mehrheit der Menschen, vor allem der Arbeitnehmer. Der Begriff war mit Hoffnung verbunden. Heute löst er Ängste aus. Sein guter Klang wird missbraucht. Zehntausende demonstrieren auch heute wieder gegen diese Art von Reformen. Das macht mich zutiefst betroffen. Denn für unsere gemeinsame Partei und für den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt habe ich einmal den Satz formuliert: „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen." Aus Überzeugung habe ich mein Leben lang dafür gearbeitet, dass reformiert wird, wo es notwendig ist. Heute muss ich mich mit einem Offenen Brief an Dich und mit einem Buch an die Öffentlichkeit wenden, um vor der Nutzlosigkeit und den negativen Folgen dessen zu warnen, was man heute Reformen nennt.
    Die meisten Reformen wenden sich heute gegen die Mehrheit und vor allem gegen die Schwächeren in unserer Gesellschaft. Sie beschädigen ein zentrales Versprechen unseres Grundgesetzes und zugleich eine große kulturelle Errungenschaft: die Sozialstaatlichkeit unseres Landes. Aber was noch wichtiger ist: Die Reformen lösen unser dringendstes Problem, den Menschen Arbeit und den Unternehmen Aufträge zu verschaffen, nicht. Im Gegenteil, sie verschärfen die Probleme noch. Das fängt schon damit an, dass die Reformer unser Land und seine Zukunft in schwarzen Farben malen müssen, um die von ihnen gewünschten Strukturreformen als zwingend erscheinen zu lassen. So reden sie seit Jahren das Land in den Keller. Das ist das allerletzte, was unsere Volkswirtschaft jetzt gebrauchen kann.


Modernisierer sind wie Drogenabhängige

    Das ewige Reden über den Reformstau und die ständigen Veränderungen mit ihrem Rattenschwanz von Bürokratie, Unruhe und Frust sind tödlich für die so wichtige Verbesserung der Wirtschaftsstimmung. Allein schon deshalb rate ich dringend, in der jetzigen heiklen wirtschaftlichen Lage die Reformpolitik hintanzustellen. Lasst sie auslaufen und konzentriert euch auf den Kern unseres Problems: die Belebung von Wirtschaft und Konjunktur. Seit Jahren wird die Zeit und Kraft der politisch Verantwortlichen von den Reformen absorbiert. Absurd. Ihr brauchtet alle Kraft, um zum Beispiel in Brüssel dafür zu kämpfen, dass Europa endlich begreift: Die besonders schlechte Entwicklung in den meisten europäischen Ländern hat nichts mit einem behaupteten Reformstau und viel mit der permanenten prozyklischen Bremserei von Zentralbank und Finanzpolitik zu tun. Warum soll Europa nicht so schlau sein wie die USA, die in wirtschaftlich kritischen Zeiten immer auf Expansion umgeschaltet und den Konsum und damit auch die Investitionen angeheizt haben?
    Seit über zehn Jahren, seit 1993, wird unsere Volkswirtschaft unter ihren Kapazitäten gefahren, nachdem der letzte Boom mit Wachstumsraten von 3,7,  3,9,  5,7 und 5,1 Prozent zu Kohls Zeiten 1992 mutwillig abgebrochen wurde. Die Bundesbank erhöhte damals den Diskontsatz schrittweise von 2,9 auf 8,75 Prozent. Ein Wahnsinn mit Folgen. Seit dem dümpeln wir mit niedrigen - und negativen - Wachstumsraten dahin.
    Die Unterauslastung unserer Volkswirtschaft ist unser Kernproblem. Jedes Jahr gehen uns so etwa 150 Milliarden Euro verloren, die die Menschen für ihren Lebensunterhalt und auch der Staat für die Finanzierung seiner Aufgaben, der deutschen Einheit und der sozialen Sicherungssysteme dringend gebraucht hätten und brauchen würden.
    Als ich im April hörte, Du wolltest den Würzburger Volkswirtschaftsprofessor Peter Bofinger zum Bundesbankpräsidenten machen, da dachte ich: Bravo, der Bundeskanzler hat's verstanden! Jetzt setzt er mit dem auf Ankurbelung der Wirtschaft drängenden Wissenschaftler ein Gegengewicht gegen die Vorherrschaft der neoliberalen Mafia. Bofinger hätte hier im Land und als deutscher Vertreter in der Europäischen Zentralbank wichtige neue Akzente zur Belebung der europäischen Volkswirtschaften setzen können. Warum in aller Welt hast Du diese Chance nicht genutzt und Dich dem Widerspruch von Hans Eichel gebeugt?
    Die so genannten Reformer sind Gift für das, was zuallererst notwendig ist: die Verbesserung der wirtschaftlichen Stimmung, die Ermutigung zu Konsum und Investition. Jeder kann es doch sehen, wenn er durch die Innenstädte geht. Wir sind heute weit hinter die Einsichten eines Ludwig Erhard, eines Karl Schiller und Franz Josef Strauß zurückgefallen. Die wussten noch - wie übrigens fast alle großen Ökonomen von Smith über Keynes bis Schum-peter oder Stiglitz -, dass Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie ist. Sie haben der Wirtschaft und den Konsumenten Mut gemacht. Die Richtung stimmt, haben sie propagiert. Die Pferde müssen wieder saufen. Das ist heute genauso richtig wie damals. Ich kenne den Einwand. Heute sei alles anders, alles neu. Das ist die am weitesten verbreitete und zugleich die dümmste Lüge, die ich kenne.
    Es brodelt im Land. Viele sind betroffen oder fürchten betroffen zu werden. Manche demonstrieren und protestieren gegen die Reformpolitik, andere resignieren und wenden sich von der Politik ab. Das kann uns doch nicht kalt lassen.
    Die tonangebenden Meinungsführer unter unseren Eliten sehen das ganz anders. Sie raten, den Reformkurs ohne Zugeständnisse an die Sorgen der Arbeitnehmer und Rentner durchzuhalten. Ich kann mir gut vorstellen, was manche Deiner Berater da so an Empfehlungen aufschreiben: Härte zeigen, Durchsetzungswillen und Stärke demonstrieren, Blut, Schweiß und Tränen predigen. Das sind die zynischen Rezepte einer wohlversorgten und abgehobenen Elite.
    Die Mehrheit der tonangebenden Kräfte in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in den Medien hast Du hinter Dir. Mächtige Meinungsmacher wollen noch mehr Reformen. Sie nennen Dich einen Zauderer und Mann der verpassten Reformchancen. Es gebe noch immer einen Reformstau in Deutschland, behaupten sie, und fragen „Rafft sich Schröder zu einem neuen Anlauf auf?"

    Ich finde diese Einlassungen sehr interessant. Die Modernisierer merken, dass die versprochenen Erfolge ausbleiben, und versuchen kurzerhand, dem Bundeskanzler, dem angeblichen Zauderer, die Schuld zuzuschieben. Sie sind wie Drogenabhängige. Wenn die Droge nicht wirkt, dann verlangen sie die Erhöhung der Dosis und stärkere Drogen. Wenn Du ihrem Drängen folgst, dann wird die SPD ihren Ruf als Partei der sozialen Gerechtigkeit endgültig verlieren. Die SPD hält keine neue sinnlose Reformrunde aus. Und unsere Gesellschaft auch nicht, und unserer Wirtschaft hilft es schon gar nicht.


Die Gründe für Reformen sind so dünn wie Wassersuppe

    Gegen die Reformpolitik wird meist eingewandt, sie sei sozial unausgewogen, ungerecht und sie schwäche den solidarischen Zusammenhalt. Diese Kritik halte ich für berechtigt. Aber viel gravierender ist die Unwirksamkeit der Reformen. Ich kann nicht verstehen, wie man in Berlin glauben kann, man stehe jetzt halt vor einer Durststrecke, und müsse nur warten, bis die Reformen ihre Wirkung entfalten. Seit Kohls Zeiten wird hier zu Lande „reformiert", ohne dass diese Reformen einen erkennbaren Erfolg hatten und haben. Schon die Behauptung, wir hätten einen Reformstau und das sei unser Hauptproblem, ist eine Legende.
    Die Steuern wurden gesenkt, die Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer gestrichen, Kapitalbesitzern wurden die Steuer für Unternehmensteilverkäufe erlassen, der Einkommenssteuersatz wurde kräftig gesenkt. Deutschland hat innerhalb der bisherigen EU mit 23,1 Prozent die zweitniedrigste Steuerquote. Hat das wie versprochen die Investitionstätigkeit oder den Konsum angeheizt?
    Die Ladenschlusszeiten wurden reformiert, die Greencard eingeführt, die Ich-AG und die PSA, die Personal-Service-Agenturen, eingeführt, die Bundesanstalt für Arbeit wurde auf den Kopf gestellt. Was hat das gebracht? Wo bleiben die zwei Millionen von Hartz versprochenen neuen Arbeitsplätze? Man hätte vorher wissen können, dass dies nicht funktioniert. Denn wie sollen aus diesen Reformen Arbeitsplätze folgen? Wie soll das konkret gehen?
    Das gilt auch für das heiß diskutierte Thema Hartz IV. Wirtschaftsminister Clement verbindet damit seine Zukunft und er meint, „die Trendumkehr auf dem Arbeitsmarkt" hänge auch von dieser Arbeitsmarktreform ab. Diese Fehleinschätzungen sind nicht mehr zu begreifen. Wie soll aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe oder aus der Absenkung der Zumutbarkeit mehr Beschäftigung folgen? Glaubt man wirklich, dass durch Billiglöhne neue zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen können?
    Jetzt wird diese Reform „die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" genannt - wer so formuliert, sitzt im Berliner Bunker und hat die Proportionen verloren. Ob die Regierung noch merkt, dass sie ihre Kraft bei der Verwaltung des Mangels an Arbeit vergeudet statt für neue Arbeit zu sorgen?
    Auch die Riester-Rente ist ein Flop. Die beschlossene Verpflichtung, für den Zahnersatz privat vorzusorgen, erweist sich als teures bürokratisches Monster. Beide Reformen wurden als notwendiger „Umbau des Sozialstaats" verkauft. Das ist die gängige Reformlüge.
    Ich verstehe wirklich nicht, warum Du Dich in diese neoliberale Reformhatz hast treiben lassen. Die in der Öffentlichkeit von den Reformeliten und auch von Dir genannten Gründe sind so dünn wie Wassersuppe. Zwei „zentrale Herausforderungen" werden immer wieder genannt: Globalisierung und Alterung.
    Die Globalisierung ist ein alter Hut. Schon 1913 war Deutschland schon so verwoben mit der Weltwirtschaft wie 1970. Seitdem hat sich die Verflechtung quantitativ verstärkt, aber nie eine neue Qualität erreicht, die grundlegende Reformen und einen Systemwechsel verlangen würde. Am deutlichsten wird das daran sichtbar, dass unser Außenhandel von der Globalisierung vor allem profitiert. 2003 erreichten wir einen Leistungsbilanzüberschuss von 52,9 Milliarden US-Dollar, die USA hingegen ein dramatisches Defizit von 541,8 Milliarden. Die letzten Zahlen vom Juni zeigen, es geht so weiter: unser Export wuchs im Vergleich zu 2003 um 16, l, die Importe um 10,7 Prozent.
   Die Reformbegründung „Alterung" ist ähnlich dünn: Die Zahlen seit 1900 zeigen, dass die dramatischsten Alterungsprozesse zwischen 1900 und 1970 stattfanden. Seitdem ist es ein eher gemäßigter Prozess mit Aufs und Abs. Wie es weiter geht, wissen wir nicht ganz genau. Der Anteil der Älteren wird voraussichtlich zunehmen. Aber von wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass schon bei einem nur mäßigen Produktivitätszuwachs unserer Volkswirtschaft von 1,5 Prozent bis in alle absehbare Zukunft (bis 2050) alle Gruppen - die wachsende Zahl der Alten, die Jungen und die arbeitende Generation - besser und zumindest gleich gestellt werden. Das ist einleuchtend, wenn man bedenkt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt - also die Güter und Dienstleistungen, die wir in einem Jahr erwirtschaften - in 2050 dann mindestens doppelt so groß sein wird wie heute. Angesichts dieser Zahlen einen Generationenkonflikt auszurufen und zu behaupten, die Alten lebten auf Kosten der Jungen, wie das von vielen Seiten geschieht, ist unverantwortlich. Dass die Bundesregierung Öl ins Feuer dieses dummen unnötigen Konflikts gießt, verstehe ich nicht.
    Also, die geläufigen Begründungen für die Strukturreformen - Alterung und Globalisierung - sind äußerst schwach. Ihre Glaubwürdigkeit folgt allein daraus, dass sie von allen Eliten nachgebetet werden.
    Bundeskanzler Schröder werde als Reformer in die Geschichte eingehen, meint der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Ich fürchte, er täuscht sich. Wenn die Reformpolitik so weitergeht, dann wirst Du als jener Bundeskanzler in die Geschichte eingehen, der sich in unwirksamen Reformen verstrickt hat, statt die Wirtschaft zu beleben, der dabei das Vertrauen in den solidarischen Charakter unseres Gemeinwesens endgültig zerstörte und zugleich seinen möglichen Nachfolgern die Schleusen dafür öffnete, die Sozialstaatlichkeit vollends auszuhöhlen und so unsere Verfassung ungeniert zu brechen.
    Mit der herzlichen Bitte, die Geschichte anders enden zu lassen,

grüßt
Albrecht Müller


    



DER TAGESSPIEGEL Nr. 18575 vom 23.08.2004, Seite 5

"Politik wird nicht von Vernunft bestimmt"
Der Wissenschaftler Gerd Bosbach über die nicht stattfindende Überalterung der Gesellschaft und warum er sich von der Politik hinters Licht geführt sieht


Herr Bosbach, Scharen von Politikern, Interessenverbänden, Wissenschaftlern und auch die Medien sorgen sich um die Überalterung der Gesellschaft. Warum?

Dafür gibt es zwei gute Argumente. Erstens: Die Daten der Warner basieren auf einer 50-Jahre-Berechnung des Statistischen Bundesamtes. Aber 50 Jahre in die Zukunft hinein zu gucken, ist nicht möglich. Zweitens: Selbst wenn alles so eintrifft, wie die 50-Jahre-Berechnung vorhersagt, erscheinen die Ergebnisse nur dann dramatisch, wenn man viele gewichtige Faktoren nicht berücksichtigt.

Zu Ihrem ersten Argument: Warum ist eine 50-Jahres-Prognose nicht möglich?

Es gibt in der menschlichen Entwicklung immer wieder Strukturbrüche, die nicht vorhersehbar sind. Am einfachsten ist das zu erkennen, wenn man in die Vergangenheit blickt. Hätte man 1950 versucht, die Bevölkerung für das Jahr 2000 vorauszuberechnen, hätte man die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre, den Pillenknick, den Zuzug von Arbeitsimmigranten aus Südeuropa und der Türkei, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Einwanderung von knapp drei Millionen Aussiedlern aus dem Osten und den Trend zu Kleinfamilien und Singleleben übersehen, ja übersehen müssen.


Gerd Bosbach lehrt und forscht an der FH Koblenz, Außenstelle Remagen, im Fachbereich Betriebs- und Sozialwirtschaft und hat unter anderem beim Statistischen Bundesamt gearbeitet.


Ihr zweites Argument: Selbst wenn alle Prognosen für 2050 eintreten, ist das halb so schlimm. Warum?

Was uns vermittelt wird, ist der beschränkte Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis zwischen der mittleren Generation, die so genannten Erwerbsfähigen, und der älteren Generation, die Rente bezieht. Diese Zahlen vom Statistischen Bundesamt werden immer in den Vordergrund gespielt und wirken sehr dramatisch. Sie besagen, dass heute 100 Erwerbsfähige 44 Rentner und im Jahr 2050 100 Erwerbsfähige 78 Rentner ernähren müssen. Diese annähernde Verdopplung wirkt als völlige Überforderung der mittleren Generation. Dabei werden aber viele wesentliche Faktoren nicht beachtet.

Welche?

Erstens: Die mittlere Generation muss nicht nur die Rentner ernähren, sondern auch die BCinder und Jugendlichen. Da die aber weniger werden, ist die Belastung der mittleren Generation geringer. Zweitens: Bei dem Panikszenario wird davon ausgegangen, dass die Menschen im Jahr 2050 sechs Jahre länger leben, aber mit dem gleichen Alter wie heute in Rente gehen. Das ist illusorisch.

Welche Rolle spielt die Produktivität?

Die Panikszenarien berücksichtigen nicht, dass sich die Produktivität in den nächsten 50 Jahren erhöhen wird. Selbst stark abgebremst auf nur ein bis 1,5 Prozent Steigerung pro Jahr, erwirtschaften wir im Jahr 2050 rund drei Viertel mehr als heute. Das versetzt uns in die Lage, mehr nicht arbeitende Menschen zu versorgen.

 

Aber Sie können doch auch nicht in die Zukunft blicken.

Nein, ich bin auch kein Hellseher. Also blicken wir in die Vergangenheit. Wir haben im letzten Jahrhundert eine Zunahme der Lebenserwartung und eine Abnahme der Kinderzahlen erlebt, bei immensem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme. Die Lebenserwartung ist von 1900 bis 2000 um über 30 Jahre gestiegen. Jetzt soll die Lebenserwartung bis 2050 um weitere sechs Jahre steigen. Das gleiche gilt für die Geburtenrate. Im Jahr 1900 waren 44 Prozent der Bevölkerung Kinder oder Jugendliche, 2000 waren es noch 21 Prozent. Bis 2050 soll der Anteil um weitere fünf Prozent auf circa 16 Prozent fallen. Die wirklich großen Veränderungen haben wir problemlos überstanden.

Das hört sich ja alles ganz beruhigend an. Warum aber hört die Politik nicht auf Sie?

Da kann ich nur spekulieren. Wir haben in Deutschland eine Menge Probleme, die um die Finanzierung der Sozialsysteme kreisen.
Das liegt im Wesentlichen daran, dass es nicht funktioniert, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Jetzt gibt es für die Politik zwei Möglichkeiten. Die erste ist: Sie gesteht ein, dass sie die Arbeitslosigkeit nicht reduzieren kann und sucht weiter nach neuen Wegen. Dann könnte man sie für die Probleme verantwortlich machen. Die andere: Die Politik benutzt die Überalterung der Gesellschaft als eine Art Naturgesetz und sagt, wir können ja nichts dafür. Damit spricht sich die Politik von jeder Verantwortung frei und schiebt die Schuld indirekt den Menschen zu, diejmmer älter werden und immer weniger Kinder bekommen. Der zweite Weg ist für die Politiker angenehmer. Auch die Versicherungswirtschaft hat ein Interesse an verunsicherten Menschen, die ihr Geld für die Rente bei ihnen anlegen.

Fühlen Sie sich von der Politik verschaukelt?

Ja, ich fühle mich für dumm verkauft. Die Begründungen der Politik für den Reformprozess sind ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand. Plötzlich werden Lohnnebenkosten als die wichtigste Sache der Welt dargestellt. Die Unternehmer interessieren die Gesamtkosten. Darin sind die Löhne ein Bestandteil. Von den Gesamtlohnkosten wiederum sind kleinere Teile Lohnnebenkosten. Und die sollen die Unternehmer scharenweise in den Ruin treiben? Gleichzeitig verkraften die exportierenden Firmen aber die immense Verteuerung des Euro gegenüber dem Dollar und steigern sogar die Exporte. Auch die aktuellen Rekordpreise für den Grundstoff Öl verkraftet die Wirtschaft.

Haben Sie die Hoffnung, dass Sie von einem einsamen Rufer im Wald zu einem Kopf einer Bewegung werden?

Natürlich träume ich noch von dem Einfluss der Vernunft auf die Politik, an den Erfolg glaube ich allerdings nicht. Die Politik wird nicht von Vernunft bestimmt, sondern von Interessen.



— Das Gespräch führte Lutz Raverkamp.
Weitere Informationen und Kontakt:
www.memo.uni-bremen.de/docs/m0404.pdf
bosbach@rheinahrcampus.de