In Moabit


Schließlich war es soweit, daß wir einziehen konnten. Es roch überall nach frischem Mörtel, im Treppenhaus lag noch der Schutt und alles war von einer dicken weißen Staubschicht überzogen. In zwei Transporten brachten wir unsere Wohnungseinrichtung aus der Attilastraße und unsere Geschäftseinrichtung aus dem Bayernring in die Lehrter Straße. Unsere Druck-Einrichtung samt Kamera kam in den Keller. Und für unsere Hunde hab es eine neue Einteilung. Szu, Amneris und Despina kamen in das Schlafzimmer hinter dem Seitenflügel-Hausflur, Ruschi und Aida kamen in das Vorderzimmer und der Rest - Ago, Carmen und Chrysothemis - kamen in die Küche. Zuerst montierte ich wieder unsere Telefonanlage aus dem Bayernring damit wir wieder erreichbar waren. Ein Wandapparat kam in die Küche. Plötzlich sprang Ago wie ein Wilder hoch und wollte offensichtlich das Telefon beißen. Nach ca. 10-Sekunden klingelte das Telefon. Wir dachten erst an einen Zufall, aber dann wiederholte sich dieses Phänomen immer wieder. Offensichtlich spürte Ago, wenn jemand an uns dachte und unsere Nummer wählte. Wenn Ago am Telefon hochsprang und wütend bellte, wußten wir: gleich wird es klingeln.

Im Herbst 1989 erlebten wir eine sehr unangenehme Überraschung. Es war kurz nach der Mauer-Öffnung. Meine Frau hatte ein Engagement in einer modernen Operette, und war handelte es sich um das Stück "Der Aufstand der Fritzen" von Ulrich Bauer. Eine Cousine meiner Frau und deren Mann, die im Ostteil der Stadt wohnten und meine Frau noch nie auf der Bühne erlebt hatten, wollten sich das Stück ansehen, das in einer Tempelhofer Schule aufgeführt wurde. Natürlich dauerte es zum Schluß etwas länger als üblich, da man sich noch vieles zu erzählen hatte. Als wir zu Hause in der Lehrter Straße ankamen, war die Wohnungstür offen. Wir dachten erst an einen Einbruch. Kein Hund meldete sich. Dann sahen wir, daß im Korridor am Spiegel ein Zettel mit der Aufforderung, wir sollten uns sofort bei der Polizei melden, klebte. Wir machten die Türen auf - alle Hunde waren weg! Die Tür zum Hintereingang stand offen, und die Tür zum hinteren Schlafzimmer war ebenfalls offen. Wir schlossen erst einmal sämtliche Türen und rannten dann zur Polizei, die sich ein paar hundert Meter entfernt in der Perleberger Straße befand.

Ein einzelner Beamter hielt dort Wache. Er erklärte uns seelenruhig, daß die Hunde gerade vor einer Viertelstunde in die Tiersammelstelle beim Tierheim Lankwitz gebracht worden seien. Wir waren entsetzt, da wir befürchten mußten, daß sich Amneris und Aida vielleicht schon gegenseitig zerfleischt haben könnten. Auch hinsichtlich der drei Rüden - Robby, Szu und Ago, die ja immer in getrennten Räumen wohnten - hatte ich die schlimmsten Befürchtungen. Wir waren nahe am Explodieren, beherrschten uns aber, fragten nach dem Grund und erfuhren, daß die "nette Familie" mit der zurückgebliebenen Frau und den vier ebenfalls geistig behinderten Kindern, die im 1. Stock genau über unserer Wohnung wohnte, bei der Polizei angerufen hatte und behauptet hatte, wir seien tagelang nicht in der Wohnung gewesen und die Hunde hätten tagelang geheult. Da habe die Polizei "natürlich eingreifen müssen". Wir erklärten die Sachlage, machten ein paar Ausführungen über Familie Hagedorn und stellten richtig, daß ich die Wohnung erst gegen 18. Uhr verlassen hatte, und wollten sofort unsere Hunde wieder haben, doch da wurde uns erklärt, daß jetzt in der Tiersammelstelle kein Beamter mehr sei, der die Herausgabe der Hunde verfügen könne. Wir könnten erst am nächsten Morgen dort vorsprechen. Wir mußten also unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Es war unheimlich still in der Wohnung. Plötzlich hörten wir im Ladenraum ein Geräusch. Dieses Geräusch kam aus einem der Schaufenster-Unterschränke. Und dann zwängte sich unsere Chrysothemis durch die Öffnung in der Schiebetür des rechten Unterschrankes und kam langsam auf uns zu. Sie war die einzige, die so klug gewesen war, sich zu verstecken und nicht bemerkbar zu machen.

Am nächsten Morgen bestellten wir uns ein geräumiges Kombi-Taxi, luden ein paar Transportbehälter ein, fuhren zur Tiersammelstelle und weckten den zuständigen Beamten, der dann geruhte, seine Bürotätigkeit aufzunehmen. Als er von uns Gebühren für Transport und Unterbringung der Hunde haben wollte, reichte es uns. Wir lehnten die Zahlung jeglicher Kosten kategorisch ab, da für die gesamte Aktion keinerlei Notwendigkeit bestand und nur auf Grund eines Anrufes einer geistig zurückgebliebenen Person durchgeführt wurde. Der Beamte schrumpfte merklich zusammen und sagte kein Wort mehr. Wir wurden dann zu einem großen Käfig geführt, wo alle unsere Hunde mucksmäuschenstill beieinander saßen. Als sie uns sahen, kamen sie erst langsam auf uns zu, als wollten sie erst nicht glauben, daß wir da seien. Da war die Freude riesig. Amneris und Aida hatten sich nicht gebissen. Aber als sie alle im Taxi untergebracht waren und merkten, daß es wieder nach Hause ging, brach die alte Rivalität wieder hervor, und wir mußten darauf achten, daß es im Taxis keine Beißerei gab. Als wir in der Lehrter Straße ankamen und unsere Hunde ausluden, war die Freude riesig. Die Hunde nahmen sofort wieder von ihren angestammten Räumen Besitz und die Welt war wieder in Ordnung. Chrysothemis trug den Kopf besonders hoch, und sie wußte ganz genau, warum.

Am 20. April 1990 gab es eine Überraschung. Als ich meine zweite morgenliche Hunderunde mit Carmen und Chrysothemis machen wollte, fiel mir auf, daß in deren Kämmerchen etwas rötlicher Schleim auf dem Fußboden lag. Ich wunderte mich und dachte erst an Durchfall, aber beide Hunde machten einen sehr mobilen Eindruck. Als ich mit beiden auf der Straße war, und ein paar Meter gegangen war, rief mich meine Frau in höchster Aufregung zurück. Im Kämmerchen krabbelte ein schwarzroter Welpe im Korb umher. Und da sahen wir auch, daß er von Carmen stammen mußte.

Die Überraschung war deshalb so groß, weil vorher bei Carmen nicht die geringsten Anzeichen für eine Trächtigkeit zu sehen gewesen waren. Carmen und Chrysothemis wohnten in meinem Tontechnik-Arbeitszimmer; ich sah sie also täglich viele Stunden. Da ich meine Hunde immer sehr genau beobachte, wäre ich sofort alarmiert gewesen. Es war aber nichts zu sehen.

Wir quartierten sofort Chrysothemis aus, damit sich Carmen allein ihrem Nachwuchs widmen konnte. Der Welpe hatte ein Gewicht von 160 g und sah sehr gut aus. Ich legte ihn bei Carmen an, und er begann, zu saugen. Natürlich sahen wir dauernd nach ihm. Es schien alles gut zu gehen. Wir wollten das neue Familienmitglied Fafner nennen. Als Vater kam nur Carmens Großvater Robby in Frage, denn mit einem anderen Rüden war Carmen in der kritischen Zeit nicht zusammengekommen. Carmen und Chrysothemis hatten ein ausgeprägtes Talent, ihre Läufigkeit sehr gut zu verbergen. Das war wahrscheinlich ein Erbteil von ihrer Mutter Dunja. Wir freuten uns jedenfalls über den unerwarteten Nachwuchs. Schade, daß es nur ein einziger Welpe war.

Am nächsten Tag gab es Probleme. Als der Welpe ankam und trinken wollte, hatte ich den Eindruck, daß er Schwierigkeiten beim Saugen hatte. Carmen drehte sich daraufhin um und kehrte ihm den Rücken zu. Ich legte den Kleinen auf die andere Seite, sodaß er an die Zitzen herankam und trinken konnte. Das wiederholte sich von da ab. Schließlich wollte Carmen ihn überhaupt nicht mehr trinken lassen und schob ihn weg. Wir mußten also mit der Flaschenfütterung beginnen. Es war natürlich sehr mühsam, denn der Kleine mußte natürlich auch in der Nacht versorgt werden. Aber wir schafften es, daß er an Gewicht zunahm. Es ging stetig aufwärts. Allerdings mußten wir feststellen, daß der Kleine häufig mitten während der Fütterung mit der Saugflasche plötzlich einschlief. Nach einer Minute war er dann wieder wach und nuckelte weiter.

Am 2.5.1990 - es war der zwölfte Tag nach dem Wurf - sackte er nachmittags um 16 Uhr beim Füttern plötzlich zusammen. Es war kein Herzschlag mehr zu hören. Massageversuche hatten keinen Erfolg. Es war direkt in meinen Händen gestorben. Ich wog ihn noch einmal: er hatte es immerhin bis auf 290 g gebracht. Am nächsten Tag brachte ich ihn in das Institut für Veterinär-Pathologie der Freien Universität Berlin, um die Todesursache feststellen zu lassen. Nach vier Tagen erhielt ich den Befund:


Mäßiger Ernährungszustand; Blutarmut (Anämie).
Mißbildungen am Herzen (verwachsene Taschenklappen der Aorta [Aortenklappenstenose], weit geöffneter Ductus arteriosus botalli persistens).
Keine Hinweise auf Vergiftung oder Infektionskrankheiten; diese Arten der Herzmißbildungen entstehen schon früh während der embryonalen Herzentwicklung.

Diagnose: Mißbildungen des Herzens


Wir waren natürlich sehr betroffen. Ich rief noch einmal im Institut für Veterinär-Pathologie an, um vielleicht noch mehr über die Ursachen zu erfahren. Im Institut war man insofern überrascht, als Welpen mit derart schweren angeborenen Fehlern meist unmittelbar nach der Geburt sterben. Nur unsere intensive Flaschenfütterung hatte es ermöglicht, daß der Welpe 12 Tage alt wurde.

Jetzt erinnerte ich mich an den rotbraunen Schleim am Wurftage. Frau Edith Fritze, die ja lange züchterische Erfahrungen hatte, hatte mir vor Jahren einmal gesagt, wenn vor dem Wurf rotbrauner Schleim komme, so sei das ein Alarmsignal, das auf einen oder mehrere abgestorbene Welpen schließen lasse. In unserem Fall hatte sich offensichtlich mindestens ein abgestorbener Welpe aufgelöst, und durch die Zersetzungsprodukte wurde der verbliebene Welpe beeinflußt und in seiner Entwicklung gehemmt. Doch die Ursache des Absterbens ließ sich nicht mehr ermitteln. An zu enger Inzucht dürfte es wohl kaum gelegen haben; eher ist zu vermuten, daß die Blutlinien von Robby und von Dunja - Carmens Mutter - sich nicht vertrugen, wobei ich an den Katastrophenwurf vom Januar 1985 denke, wobei kein einziger der vier Welpen überlebt hatte. Ein Welpe war schwarzrot gewesen, während die drei anderen rot-saufarben mit unterschiedlich großen weißen Flecken waren. Robby hatte zwar einen weißen Brustfleck, aber die Veranlagung zur Vererbung weißer Flecken (Scheckung) mußte auch bei Dunja vorhanden gewesen sein. Leider geben die Stammbücher des DTK keine Antwort auf die Frage, wer von Dunjas Vorfahren gescheckt war. Es ist nichts eingetragen worden.

 

Gegen Jahresende des Jahres 1990 mußten wir erfahren, daß das Haus einen neuen Besitzer bekommen würde. Ein "Sachverständiger" - was für einer, habe ich nie erfahren - hätte das Haus gekauft und würde sich demnächst bei allen Mietern vorstellen. An der Hausverwaltung würde sich nichts ändern. Wir bedauerten diesen Wechsel sehr, denn mit den bisherigen Besitzern hatten wir uns sehr gut verstanden. Wir wurden den Verdacht nicht los, daß die Hausverwaltung diesem Besitzerwechsel nachgeholfen hatte.

 

Wird demnächst fortgesetzt